Indien: Von dröhnenden Hupen zum rauschenden Meer

Mittags ist der Sand zu heiß, um ohne Sohle unter den Füßen auf ihm zu laufen. Das Meer wirft beachtliche Wellen auf, die sich für den Sound dieser Tage verantwortlich zeigen, wenn sie in sich zusammenfallen und an den Strand rauschen. Wir schlürfen das fruchtige Wasser aus frisch aufgeschlagenen Kokosnüssen und passen bei der Rastplatzsuche auf, dass uns diese nicht auf den Kopf fallen können. Wir sind umgeben von zahlreichen indischen Touristen, aber auch eingeflogenen oder ausgewanderten Hippies aus Europa und russischen Rentnern. Die Strände sind breit, die Preise günstig und das Essen international. Das hier ist Indien, aber vor allem Goa, der Bundesstaat an der Westküste, der komplett auf den Tourismus eingestellt ist. Wir machen Urlaub vom Reisen und genießen es, dass sich unser kultureller Input auf das Probieren exotischer Früchte beschränkt. Endlich sind wir hier. Sind wir des Reisens müde geworden? Auf keinen Fall, aber wir brauchen eine kleine Pause. Und wann wäre ein besserer Zeitpunkt? Es ist Weihnachten. –

Indien wäre jedoch nicht Indien, wenn es auf dem Weg zur Küste nicht einiges bereit zu halten hätte.
Als wir vor gut 4 Wochen in Lahore aufbrechen, erwartet uns an der Grenze nicht nur eine unkomplizierte Aus- und Einreiseprozedur, auch der Schichtwechsel der wachhabenden Grenzsoldaten darf beobachtet werden. An allen 3 existierenden Grenzübergangen zwischen Pakistan und Indien geht dieses Ereignis mitnichten im Stillen vonstatten. Besonders die Ablösung der morgendlichen Schicht ist mittlerweile zu einem Ereignis geworden, zu dem hunderte Zuschauer beider Seiten strömen: durch-choreografiert und publikumswirksam.
Die Zeremonie auf der pakistanischen Seite sehen wir uns noch während unserer Zeit in Lahore an. An einem der kleineren Grenzübergange ist die Atmosphäre hier schon fast intim, man kann den Zuschauern der indischen Seite über den Grenzzaun, welcher sich durch den im Stile einer Arena mit Tribünen zu beiden Seiten gebauten Platz zieht, in die Augen schauen. Man betrachtet sich mit Skepsis, wenn der Blick nicht durch das Geschehen ein paar Meter weiter unten gefesselt ist. Nachdem Einheizer auf beiden Seiten das Publikum auf die zu unterstützende Nation eingeschworen haben, schreiten die überdimensioniert wirkenden Grenzbeamten der pakistanischen Armee zur Tat. Jeder der kunstvoll verzierten Soldaten ist mindestens 2 Meter groß, was uns mit der Frage alleine lässt, ob das nationale Basketball-Team mit Personalsorgen zu kämpfen hat. Pakistan hat sich uns bisher nicht gerade als ein Land der Hünen präsentiert.
Mit ernster Miene werden im Folgenden Beine hinters Ohr geschwungen, die extra verstärkten Schuhsohlen donnernd auf den Zement gehauen, Maschinengewehre durch die Luft gewirbelt. Die in Normalgröße auftretenden Inder tun es ihnen gleich. Zwischendurch steht man sich im Abstand weniger Meter gegenüber und versucht, sich mit eindringlichen Blicken, geschwellter Brust und nachdrücklichem Bärte-Zwirbeln einzuschüchtern. Vor dem Hintergrund des aktuell wieder aufflammenden Kaschmir-Konflikts wirkt das Schauspiel bizarr und man ist fast froh, dass sich die Hauptmänner beider Kompanien als Zeichen des Respekts zwischendurch sogar die Hände schütteln und die Menge nach gut einer Stunde im Guten wieder auseinandergeht.

Die Wagah-Grenze etwa 60 km weiter nördlich ist die einzige für Ausländer geöffnete Grenze und wartet mit dem bekanntesten Spektakel auf. Das Amphitheater kann auf beiden Seiten locker mehrere tausend Menschen fassen. Wir müssen – mittlerweile auf der indischen Seite – auf einer extra Ausländer-Tribüne Platz nehmen. Die Choreographien ähneln den uns schon bekannten, die dröhnende Beschallung und eine Mauer, die nur das Durchgangstor freilässt, lassen uns von der anderen, der pakistanischen Seite aber fast nichts mitbekommen. Oberhalb der Zuschauerränge steht in großen Buchstaben: „Indias First Line of Defense“ und auch ansonsten wirkt das Geschehen heute etwas weniger zeremoniell, dafür martialischer.

Nur ein paar Kilometer entfernt warten Amritsar und unser Couchsurfing-Host Harjit auf uns. Harjit ist Angehöriger der Sikh, einer Religionsgemeinschaft, die ihre Wurzeln im Hinduismus hat. Als ich ihn am Abend nach dem an seinem Gürtel hängenden Spielzeug-Messer frage, erhalten wir eine kleine Einführungsstunde in seine Religion. Jeder Gläubige hat stets einen Dolch am Körper zu tragen, um in Notfällen den Armen beizustehen, aber auch um sich selbst verteidigen zu können. Hatten diese Dolche früher oftmals noch Ausmaße eines Säbels, sind sie heute aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen meist nur noch von symbolischer Größe. Harjit hat Mühe, seinen leicht angerosteten Mini-Dolch aus der Scheide zu ziehen.
Außerdem sei man angehalten, seine Haare nicht zu schneiden. Während sowohl Männer als auch manche Frauen ihr Kopfhaar unter den ebenfalls obligatorischen Turbanen verstecken, können die immer länger werdenden Bärte schon lästig werden, weshalb sie oft mit Klammern oder Haargummis zusammen gebunden sind. Ein weiteres Utensil ist der an jedem Sikh-Handgelenk zu findende silberne Armreif. Er soll den Träger davon abhalten, schlimme Dinge zu tun.
Auch wenn das Heiligtum der Sikh, der berühmte Goldene Tempel, mit seinen großzügigen Ausmaßen und seiner Andächtigkeit zum Innehalten und Energie tanken einlädt, sind wir mit der Stadt überfordert. Immer noch von Magenproblemen gebeutelt, erscheint uns das indische Gehupe noch lauter, die Straßen noch enger und das Essen noch schärfer als in Lahore. Zudem macht uns eine weitere indische Eigenheit zu schaffen. Es kommt zu lautstarken Streitigkeiten im Haus unseres Gastgebers, der zusammen mit seiner Mutter, seinem Bruder und dessen Familie wohnt. Harjit selbst hat erst vor kurzem geheiratet, jedoch eine Frau aus einer niederen Kaste. Das System, dass längst offiziell verboten ist und auch in den heiligen Schriften der Sikh abgelehnt wird, ist im Kopf seiner konservativ erzogenen Mutter noch fest verankert und lässt nun die Kochtöpfe fliegen. Nach 4 Tagen flüchten wir und nehmen den Nachtzug nach Jaipur.

Gute 700 Kilometer später sind wir in Rajasthan angekommen, einem Bundesstaat fast so groß wie Deutschland. In Jaipur nutzen wir die Gemütlichkeit eines schönen Hostels mit Dachterrase, um uns auszukurieren und schon nach wenigen Tagen haben wir wieder Muße, uns erneut auf den Weg zu machen.

Unsere nächste Station heißt Bundi. Als wir abends ankommen und eine Rikscha uns zu unserer Unterkunft in die Altstadt fährt, sind wir begeistert. Hier scheint es noch ruhiger zu sein als in der „Pinken Stadt“. Unser Hostel ist ein historisches Gebäude mit großem Innenhof, in dem unser kleines Häuschen Platz findet, welches aus nur einem Raum besteht. Auf den Flachdächern der Nachbarschaft lassen die Buben Drachen steigen und nur ab und zu ist das Knattern der Motorräder in den Seitenstraßen zu hören. Am nächsten Tag machen wir uns auf den Weg zu einem Aussichtspunkt auf einem nahen Hügel. Neben den allgegenwärtigen Kühen, die – nach Ablauf ihrer besten Jahre von den Bauern in die Städte gebracht – manchmal in der Gegend rumstehen wie bestellt und nicht abgeholt, begegnet uns auch die ermattete Hochzeitskapelle der vergangenen Nacht. Gerade ist Hauptsaison für Eheschließungen und beinahe jeden Abend zieht eine Karawane durch die Stadt, die neben dem Bräutigam und seinen Verwandten auch aus einem Lautsprecherwagen, welcher in ohrenbetäubender Lautstärke Musik abspielt, und Trägern von Lichterschirmen besteht, welche die Festgesellschaft umrahmen. Den Abschluss bildet der Unglückliche, der den uralten Generator ziehen muss.

Als nächstes wollen wir nach Ahmedabad und weil Udaipur günstig auf der Hälfte der Strecke liegt, legen wir einen Stopp ein. Wir erhoffen uns nicht viel und werden überrascht. Die Stadt, die von einer gigantischen Seenlandschaft geprägt ist, versprüht schon fast mediterranes Flair. Wir lassen uns anstecken von der Urlaubsstimmung der zahlreichen Touristen und finden uns wieder in einer perfekt auf deren Bedürfnisse abgestimmten Innenstadt. Cafés und Restaurants reihen sich ein in Wäschereien und Reiseagenturen und natürlich werden all die uns wohl bekannten Indien-Artikel an den Mann und die Frau gebracht: farbenfrohe Tücher und Kleider, Raucherstäbchen und Lederwaren, kunstvoll gefertigte Ketten und Ohrringe, Henna-Bemalung, Yogakurse und Ayurveda-Massagen.
Wir leihen uns einen Roller aus und als wir wenig später bei der Fahrt durch das grüne Umland den Fahrtwind im Gesicht spüren, ist es wieder da, das Sommergefühl, mitten im Winter. Je höher die Temperaturen steigen, desto wärmer werden auch wir mit Indien.

Einmal halten wir dann noch auf unserem Weg zum Strand. Ahmebadad soll tolles Streetfood und eine sehenswerte Altstadt haben. Wir werden von Prakash empfangen, der in einem schicken Hochhaus abseits der Stadt in einer dieser neu gebauten Siedlungen wohnt, die mit ihren sauberen Straßen und bewachten Umzäunungen die Mittelschicht anlocken. Er hat ein ungewöhnliches Angebot für den nächsten Tag. Ein guter Freund von ihm würde gerade einen Online-Bekleidungshandel aufziehen und suche noch ein weibliches Model. Noch am selben Abend fahren wir zu ihm und lassen uns die Kleider zeigen. Sein Ansatz, nur von Hand Gefertigtes anzubieten, überzeugt und am nächsten Morgen dreht Henriette sich im warmen Sonnenlicht vor der Kamera. Die Entrepreneure können keine Bezahlung bieten, sondern laden uns stattdessen in eines der renommiertesten Restaurants zum Tahli-Essen ein. Auf zusammen gesteckten Blättern eines uns unbekannten Baumes werden Curries, Dhals, verschiedene Gemüse, Halwa, Chapati und Buttermilch aufgetischt. Wir sind im Himmel und schmausen bis zur Unbeweglichkeit. Der erste Job auf Reisen hat sich gelohnt!
In den nächsten Tagen entdecken wir die 8-Millionen-Stadt mal mit, mal ohne Prakash. Gandhi hat hier seinen ersten Ashram errichten lassen. Im Gedenken an seine Lehren und seine Enthaltsamkeit ist bis heute Alkoholkonsum für Inder im gesamten Bundesstaat Gujarat verboten. Allein Ausländer können eine Ausnahmegenehmigung beantragen.

Nach 4 Tagen sagen wir unserem netten Gastgeber Lebewohl, der uns noch auf der Fahrt zum Bahnhof von seinem Vorhaben überzeugen will, mit ihm in Goa ein Casinoschiff zu besuchen. Mit Strand hätte er es nicht so… Wir schon, winken wir lachend ab. Nur noch eine 17-Stunden-Zugfahrt trennt uns vom Meer.

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