Innerlich sind wir vorbereitet auf den anstrengendsten Tag unserer Reise. Wir haben uns belesen über Xinjiang, die Provinz im Westen Chinas, die zwischen uns und unserem nächsten Ziel Pakistan liegt. Wissen, dass die Chinesen wegen Attentaten einiger extremistischer Uiguren einen Polizeistaat errichtet haben und die Einreise für Ausländer mit enormen Sicherheitskontrollen einhergeht. Dass dabei der Zugriff auf Handys und Laptops gefordert und in manchen Fällen gar eine Spionage-App installiert wird. Dass unterwegs mindestens alle 100km ein Checkpoint mit Gesichtserkennung wartet und es in den Städten von stationärer und mobiler Polizei nur so wimmelt.
Wir sind vorbereitet und doch überrascht, als wir erst gegen 10 Uhr abends, 13 Stunden, nachdem wir in Irkeshtam aufbrechen und die nur 250km nach Kashgar vor uns haben, hundemüde die Tür zum Hotelzimmer aufschließen.
Um 9 geht’s los. Wir stärken uns nochmal an einer deftigen Morgensuppe und laufen anschließend zum einsamen Grenzposten der Kirgisen, der nur ein paar Meter von unserer Unterkunft entfernt liegt. Ein dicklicher Soldat liegt auf der Heizung und schreckt auf, als wir eintreten. Nach einem halbherzigen Gepäckcheck verabschiedet uns ein weiterer Grenzbeamter mit einem Lächeln, dass uns – aus der Retrospektive betrachtet – wohl auf die kommenden Strapazen vorbereiten soll.
Unsere erste Begegnung mit chinesischem Staatsgebiet machen wir, als wir wenig später über die Baustelle stolpern, die wohl demnächst mal ein anständiger Grenzposten werden soll. Die netten Beamten, die wir schließlich aufstöbern, machen uns ein Auto zum nächsten Checkpoint klar. In diesem angekommen, werden wir dann erst einmal im abschließbaren Warteraum untergebracht und dürfen uns die erste von vielen schlecht übersetzten Infotafeln durchlesen. Individualreisenden wird hier nochmals empfohlen, die offiziellen Taxis zu benutzen. Die Straße zum nächsten Checkpoint und weiter nach Kashgar sei schlecht ausgebaut und man würde auf eigene Faust Gefahr laufen, vom rechten Wege abzukommen…
Nachdem ein Grenzbeamter sich wenig später tatsächlich fast alle unserer 10000 Bilder auf dem Tablet angeschaut und sich über das chinesische Fabrikat gefreut hat, geht es auf einem hervorragenden Highway weitere 140 km auf schnurgerader Strecke zum eigentlichen Immigration Post in Ulugqat. Als wir an den wenigen Siedlungen vorbeifahren, sehen wir neben hochgradig gesicherten Kindergärten und Schulen auch die uns wohl bekannten Kalpak-Hüte durch die staubigen Straßen spazieren. Auch Kirgisen bilden eine Minderheit in Xinjiang.
An unserer nächsten Station wirds nochmal penibel. Uns werden die Fingerabdrücke abgenommen und Henriette darf einmal ihren gesamten Hausrat präsentieren. Unser Taxifahrer ist schon abgefahren, als wir endlich auch die Diskussion darüber gewinnen, ob wir unsere Taschenmesser behalten dürfen. Wir jubilieren wie kleine Kinder, haben aber noch die letzten 100 km bis nach Kashgar vor uns und noch keine Yuan in der Tasche, um uns das Busticket zu kaufen. Zu trampen versuchen wir erst gar nicht.
Nach einigem Hin und Her am Schalter wird ein schwer bewaffneter Polizist zu Hilfe geholt. Er hat eines dieser wirklich schlauen Übersetzungsgeräte und organisiert uns einen Transport zur Bank.
Dank der überall in China gültigen Peking-Zeit (angesichts der schieren Größe Chinas ist eine Zeitzone schon eine Ansage, Anm. d. R.) ist es auf einmal wieder bis abends um halb 9 hell, aber wir erreichen unser Ziel für heute trotzdem erst in der Dunkelheit. Das unentwegte Blitzen der jedes Auto erfassenden Kameras bleibt mir in Erinnerung, als ich später die Augen schließe. –
Kashgar ist neben dem etwas weiter nördlich gelegenen Urumtschi und dem südöstlich gelegenen Hotan eine der größeren Städte Xinjiangs und geprägt durch seine überwiegend muslimische uigurische Bevölkerung. In letzter Zeit machte China von sich reden, weil es hunderte so genannte Umerziehungslager für Uiguren schuf, die sich nicht auf Parteilinie bewegten. In den abgeschiedenen und abgeriegelten Lagern steht u.a. Chinesisch lernen und das Singen von chinesischen Volksliedern auf dem Programm.
Laut Medienberichten sind mittlerweile mehr als 10 Prozent der uigurischen Bevölkerung in derartigen Einrichtungen inhaftiert, oftmals für kleine “Vergehen” wie dem Teilnehmen an Arabisch-Stunden. Ohne Rücksicht werden hierbei auch Eltern von ihren Kindern getrennt, die fortan in geschlossenen “Kindergärten” untergebracht sind.
Ich muss an die in der chinesischen Botschaft in Teheran ausgelegten Broschüren denken, die mit sachlichen Titeln sozialwissenschaftliche Studien zur Garantierung der Religionsfreiheit sowie Maßnahmen für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen in Xinjiang darlegten. Davon ist hier allenfalls in den gelegentlich anzutreffenden Übersetzungen der chinesischen Schriftzeichen in Uiguirisch etwas zu sehen. Außer der Heytgah-Moschee, der größten in China, sucht man als solche erkenntliche muslimische Gotteshäuser vergebens. Die alte Kultur der hier seit Jahrhunderten ansässigen Minderheit ist mittlerweile nur insoweit geduldet, als dass es touristisch vermarktbar wäre. Seit 2009 ist ein Großteil der historischen Altstadt zerstört und durch eine neu gebaute “Altstadt” ersetzt worden. Die Sicherheitskameras sind stilecht mit Bast umwickelt, die Stühle der Cafés mit einem angerauten Look versehen. Horden von han-chinesischen Touristen gehen auf Fotojagd. Wer nicht mindestens 2 DSLRs mit 25cm-Objektiv aufzuweisen hat, durfte offensichtlich nicht in den Bus steigen.
Lässt man für einen Augenblick die Absurdität dieses Disneylands außer Acht, lässt es sich hier sogar prima flanieren. Uigurische Handwerkskunst wird feilgeboten, ebenso traditionelle Speisen aller Art auf dem Nacht-Foodmarkt. Nur die Häuserfassaden, von dezenten Scheinwerfern perfekt ausgeleuchtet, sehen bei genauerem Hinsehen aus wie Kulissen im Filmpark Babelsberg.
Etwas authentischer geht es da auf dem sonntäglichen Viehmarkt etwas außerhalb der Stadt zu. Rinder, Yaks, Schafe, Esel und sogar ein paar Kamele werden hier unters Volk gebracht. Angesichts der eng angebundenen Tiere versuchen wir unser Gemüt mit der These zu beruhigen, dass ihr sonstiges Leben wohl immerhin nicht mit dem eines in deutscher Massentierhaltung zu vergleichen ist.
Vor den Toren zum eigentlichen Viehgeschäft werden einige frisch geschlachtete Tiere zerlegt und landen wahlweise in Teig gewickelt in hölzernen Garbehältern oder als Schaschlik im Feuerofen. Quacksalber führen mit Ansteckmikro ihre neuste Wundsalbenkollektion vor und werden nur von den für uns unverständlichen und auf Anschlag gedrehten Werbesprüchen aus mehreren Kleinlastern übertönt, die Plastikwaren aller Art im Angebot haben. Dazwischen kann man frisch gepressten Granatapfelsaft probieren oder sich in großer Runde Honigmelone schmecken lassen.
Nach 3 Tagen machen wir uns auf die Socken: der Karakoram-Highway, der sich von Kashgar bis kurz hinter Islamabad erstreckt, liegt vor uns. Der Kleinbus nach Tashkurgan, dem obligatorischen Zwischenstopp auf dem Weg zur pakistanischen Grenze ist zwar öffentlich, macht aber freundlicherweise Halt an den fotogensten Stellen der Straße, die als eine der höchsten der Welt gilt.
In Tashkurgan darf man das Stadtgebiet ohne besondere Erlaubnis nicht verlassen, trotzdem bleiben wir 2 Nächte und kurieren uns etwas aus. In meiner Erkältung bin ich mittlerweile im Schnupfenstadium angekommen und habe das Gefühl, einen Kopf voll mit Schleim zu haben. Unter diesen Umständen lernen wir aber immerhin eine ganze Palette freundlicher Pakistani kennen, die grenzübergreifend unterschiedlichen Geschäften nachgehen. Bahandi, dessen Firma er treffsicher “Bahandi Import & Export” genannt hat, gibt schonmal unsere Visadaten an seinen Vater durch, der leitender Beamter an der pakistanischen Grenze ist. Weil die Angabe eines Einreisedatums in unserer E-Visa-Bestätigungsmail fehlt, sind wir uns nicht ganz sicher, ob wir überhaupt schon rüber dürfen.
Am nächsten Tag wagen wirs trotzdem. So ausschweifend unser Einreiseprogramm gestaltet wurde, so schnell werden wir zu unserer Freude bei der Ausreise aus China abgefertigt. Am Busterminal treffen wir all die bekannten Gesichter der Abende vorher wieder und fühlen uns schon bald wie unter Freunden. Als auch wirklich jeder Reissack auf dem kleinen Busdach verstaut ist, geht es los in Richtung der höchsten Grenze der Welt, dem Khunjerab Pass. Draußen wird die Landschaft immer weißer, wir schrauben uns noch ein paar Serpentinen empor und dann sehen wir das berühmte Tor, welches die Grenze symbolisiert. Wir fahren noch vorbei am höchsten gelegenen Bankautomaten der Welt und sind in Pakistan.
Die letzten 80 km bis nach Sost sind landschaftlich spektakulär. Wir schlängeln uns durch schroffe Berge und tiefe Schluchten, der Khunjerab River begleitet uns zuverlässig und lässt hier und da kleine Oasen entstehen.
In der Grenzbehörde in Sost werden wir dank Bahandis Bemühungen schon erwartet und mit Tee bewirtet. Als wir uns wenig später ein Bett suchen, treffen wir auf unsere Busbekanntschaften, die uns zurufen: “Enjoy Pakistan! You are free again!” Da ist was dran.