Vorbei. Jetzt wirklich. Es ist wieder kalt und grau, eine Kombination, die wir schon fast vergessen hatten. Zu Hause. Weihnachten im Kreise der Familie. Meiner Nichte das erste Mal in ihre großen Augen schauen. Wildschweinbraten. Blog schreiben mit einer Tastatur und einem großem Bildschirm.
Iran-Fotos zeigen. Das ist schon über ein Jahr her. Wir erinnern uns an die Herzlichkeit und das Interesse vor allem der jungen Leute an uns. Meine Eltern sagen, sie fühlen sich an ihre Aufregung damals im Osten erinnert, wenn ihnen Gleichaltrige aus dem westlichen Ausland begegneten, denn das war selten und selber reisen ging nur ins sozialistische Ausland.
Was haben wir mitgenommen, was gelernt? Die Zeilen schreiben sich schwer. Wie will man diese Zeit als Ganzes begreifen? Wohl am ehesten, in dem man sie in zwei Abschnitten betrachtet.
Da war zuerst die Zeit von Mai 2019 bis März 2020. Wir reisen, wie wir es uns erträumt hatten. Von Leipzig nach Istanbul geht es noch relativ schnell. 4 Wochen brauchen wir für die Strecke durch Osteuropa, besuchen Freunde in Ungarn, werden krank, gönnen uns wenig Pausen. Was noch alles auf uns wartet! Eine Woche in der Megacity am Bosporus, dann in nochmal einer Woche die Schwarzmeerküste entlang, bis wir im Hochsommer Georgien erreichen. Das erste Mal workaway, wir lernen Jan und Franny kennen, die uns noch für eine Runde durchs Land im Auto mitnehmen. Aserbaidschan gerät zur Nervenparty, weil wir für die Weiterreise von nun an Visa brauchen, bei denen es manchmal auch das Kleingedruckte zu beachten gilt. Dann endlich: der Iran! Ein aufregendes, trockenes, freundliches, verstörendes und doch wunderschönes Land. Von diesen Erfahrungen werden wir noch lange zehren.
Weiter geht es durch Zentralasien bis hoch ins bergige Kirgisistan. Wir sind ein wenig in Zeitnot, denn unser nächstes Ziel ist die höchste Grenze der Welt, die spätestens Ende November schließt – von China nach Pakistan. Doch erst müssen wir durch den Orwell’schen Alptraum Xinjiangs, bei weitem nicht die erste und einzige politisch fragwürdige Region unserer bisherigen Reise, doch eine der beklemmensten. In Pakistan können wir dann aufatmen: die erste größere Hürde ist genommen, eine Last fällt von uns ab. Wieder dürfen wir die Gastfreundlichkeit spüren, die uns auch schon in der muslimischen Türkei und dem Iran so fasziniert hat. In 4 Wochen reisen wir den Karakoam-Highway bis hinunter nach Islamabad und weiter nach Lahore, fotografieren uns in atemberaubenden Landschaften die Finger wund, handeln uns eine Lebensmittelvergiftung ein und dürfen bei einer Ikone der Gleichberechtigungs-Bewegung unterkommen.
Wir fahren weiter nach Indien, diesem riesigen, chaotischen Subkontinent und bringen eine gehörige Portion Respekt mit. Doch Stück für Stück kommen wir dem Land und seinen Leuten näher und fühlen uns spätestens, als wir über Weihnachten das erste Mal so richtig Urlaub vom Reisen machen, angekommen. Der Zug hat mittlerweile das Trampen abgelöst, ganz so masochistisch wollen wir auf die weiten Entfernungen dann doch nicht sein. Den europäischen Winter verbringen wir also bei angenehmen Temperaturen erst an der West- später dann an der Ostküste, um schließlich im Nordosten des Landes anzukommen, der einiges zu bieten hat, dort, wo Indien Bangladesch umschlingt. –
Immer wieder halten wir uns in diesen ersten 10 Monaten vor Augen, wie privilegiert wir sind und was für ein Glück es ist, dass wir uns tatsächlich aufgemacht haben. Jeden Tag aufs Neue haben wir die Freiheit zu tun, was wir heute für das Richtige halten. Wir leben in die Tage hinein und lieben es. Gefällt es uns an einem Ort, bleiben wir noch ein bisschen länger. Haben wir das Gefühl, es ist genug, überlegen wir uns ein neues Ziel, stellen uns an die Straße oder steigen in einen Bus. Unser Leben so kostet nicht viel, natürlich auch, weil wir in eine günstige Himmelsrichtung reisen, immer wieder couchsurfen und auf unsere Ausgaben achten. 500 – 600 Euro geben wir zusammen im Monat aus. Davon haben wir in Leipzig gerade mal unsere Miete bezahlt.
Wir wollen die Kulturen verstehen, so gut es eben geht in der Kürze der Zeit, die oft genug durch die Visa beschränkt ist. Oft sind es unsere Couchsurfing-Hosts, die uns an die Hand nehmen, uns durch ihre Städte und die Wohnzimmer ihrer Freunde führen.
Beim Trampen treffen wir hingegen oft auf Landsleute, mit denen wir keine gemeinsame Sprache sprechen. Hier ist die Google-Übersetzungs-App ein Segen, wenn Hände und Füße mal nicht ausreichen. Diese Art des Reisens ist kein Urlaub. Unsere Tage sind gut ausgefüllt mit unserem Vorankommen, dem Organisieren von Schlafplätzen, unseren neuen Bekanntschaften und dem Pläne schmieden für das, was als Nächstes kommen soll.
Immer wieder begegnen wir in diesen ersten 10 Monaten auch den Auswirkungen des Klimawandels. In den mit historisch bedeutsamen Gebäuden überreichen Städten des Iran sehen wir oft wunderschön gemauerte Wasserspeicher, in die noch bis vor 30 Jahren im Winter genug geschmolzener Schnee geleitet werden konnte, sodass die Bewohner der Stadtviertel bis weit in den Sommer hinein von den Vorräten zehren konnten. Nun sind die Speicher das ganze Jahr über leer, die Temperaturen steigen jedes Jahr und zusammen mit einem verheerenden Missmanagement der verbleibenden Wasserressourcen vonseiten der Regierung steuert das Land auf eine Katastrophe zu. Auch in Usbekistan haben die Menschen mit Wassermangel zu kämpfen, was wiederum nicht nur mit den Klimaveränderungen, sondern auch mit der jahrzehntelangen Bewirtschaftung weiter Teile des Landes mit Baumwolle zu tun hat. Eines der prominentesten Beispiele dieser verheerenden Priorisierung des weißen Goldes liegt zur Hälfte in Usbekistan, zur anderen in Kasachstan und wird von vielen Wissenschaftlern als eine der größten von Menschen verursachten Umweltkatastrophen überhaupt angesehen: der Aralsee, einst viertgrößter Binnensee der Erde ist durch das Abzweigen großer Wassermassen für die Landwirtschaft mittlerweile fast vollständig ausgetrocknet. Bis zu den traurigen Resten tief im Westen des Landes haben wir es nicht geschafft, die sich über große Flächen ziehenden Baumwollfelder sind allerdings auch im von uns bereisten Osten immer noch allgegenwärtig und machen das Dilemma einer usbekischen Abhängigkeit deutlich.
Auch im Süden Indiens sind die Auswirkungen des Klimawandels deutlich zu spüren. Als wir auf einer Milchfarm in der Nähe von Chennai für eine Woche mithelfen, erzählt uns unsere Gastgeberin Glory, dass seit Jahren die Regenfälle des Monsun, von den knapp 90% der indischen Landwirtschaft abhängig sind, weniger, dafür jedoch extremer werden, was für die zarten Reispflänzchen zum Problem wird.
Und dann läutet Corona das zweite Kapitel unserer Reise ein. Schon im Begriff, an die Grenze von Indien nach Myanmar zu fahren, erfahren wir, dass diese dicht ist. Mental haben wir uns da schon von einem auch oft genug anstrengenden Indien verabschiedet, wollen weiter und unser Visum läuft ab. Da bleibt nur das Flugzeug, von dem wir uns eigentlich fernhalten wollten. Immerhin können wir noch nach Thailand.
Auch wir unterschätzen in diesen Tagen die Tragweite dieser Pandemie noch lange, denken, dass das Virus in ein paar Monaten unter Kontrolle gebracht sein wird und die Grenzen wieder öffnen. Das Warten wird anstrengend und in unserem Hostel in Chiang Mai fällt uns bald die Decke auf den Kopf. Nach 2 Monaten können wir zwar immer noch nicht nach Laos, dafür in die Nachbarprovinz nach Pai, wo wir die kommenden 3 Monate mit dem Fertigstellen eines kleines Hauses im workaway-Projekt von Kleaw ein schönes Projekt vor Augen haben, welches uns die Zeit dort eine ganze Weile lang nicht langweilig werden lässt. Spätestens jetzt wird jedoch auch uns klar: es geht nicht weiter ostwärts. Vietnam, Australien und Südamerika bleiben uns dieses Mal verschlossen.
Doch wir jammern natürlich auf hohem Niveau. Überall auf der Welt verlieren manche Menschen wegen Corona sogar Angehörige, viele ihre Arbeit. In Thailand macht der Tourismus 2019 fast 22 % des BIP aus. Fast alle diese Einnahmen brechen nun weg. Chiang Mai mit seinen Hostels, Cafés und Restaurants an jeder Straßenecke wirkt manchmal fast wie ausgestorben. Auch Harry, bei dem wir während unserer Zeit dort unterkommen, musste schließlich Ende Oktober schließen, Zukunft ungewiss. Wir dagegen müssen erstmal “nur” unsere Freizeitpläne umgestalten.
Unsere letzten 4 Wochen in Thailand können wir noch auf dem paradiesischen Koh Phangan verbringen, dann geht es im Langstreckenflug zurück nach Europa. So lange wie möglich wollen wir aber auch hier noch unsere endgültige Rückkehr hinauszögern, eine Rückkehr zu einem Leben mit einem geregelten Alltag, vor dem uns noch graut. Fast 2 Monate verbringen wir also noch in Griechenland und helfen auf einer Farm aus, bevor wir auf dem Rückweg nach Deutschland sogar Venedig noch einen Besuch abstatten können.
Es ist ein anderes Reisen geworden. Mit längeren Aufenthalten an einzelnen Orten, mit dem Online-Unterrichten, das seine Planungen und gutes Wifi voraussetzt, mit mehr Zeit, sich kleineren Projekten zu widmen. Und auch das lernen wir zu schätzen. Rückblickend ist es eine wohltuende Überbrückungszeit gewesen, zwischen dem zielstrebigen Immer-weiter des ersten Abschnitts und einem erneuten Sich-Niederlassen in Deutschland.
Jetzt ist es also soweit. Wir sitzen wieder im Elternhaus, gucken nach Jobs und Wohnungen, ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Wenn wir an die Reise als Ganzes denken, sind wir wohl vor allem froh, tatsächlich losgezogen zu sein und dankbar, dass wir trotz dieses verrückten letzten Jahres noch so lange unterwegs sein konnten. Wir durften die kulinarischen Köstlichkeiten u.a. der Türkei, des Irans, Indiens und Thailands kennenlernen, unsere Geografiekenntnisse auffrischen (Wer weiß denn schon, wo Turkmenistan liegt?) und uns mit der Geschichte der Länder, die wir bereisten, auseinandersetzen. Oft genug trafen wir auch auf Reisende aus allen möglichen Regionen der Welt, die uns von ihren Heimatländern berichteten. So erzählten uns die professionellen youtuber Scott und Wendy in unserem couchsurfing-Quartier in Bischkek von ihrer Heimat Taiwan und dem schwierigen Verhältnis zu China, der gerade einmal 19jährige Solo-Reisende Shubi aus Indien hingegen, den wir wenig später am Karakol kennenlernten, bereitet uns schonmal auf einige Eigenheiten seiner Landsleute vor.
Wir lernen, dass oft schon ein paar Worte in der Landessprache reichen, um die Herzen seiner Bewohner zu gewinnen. Und wir können bestätigen: Deutsche sind wirklich überall.
Vor allem aber wissen wir jetzt, uns liegt das Langzeitreisen. Besonders, wenn es unterwegs gerade gut lief, hatten wir schon Pläne für noch andere Routen im Kopf, irgendwann mal. Von Südamerika nach Kanada. Auch in Afrika von ganz unten bis zurück nach Europa. Mit dem Wohnmobil durch Russland und natürlich irgendwann noch einmal mit dem Schiff über einen Ozean. Es gibt noch so viel zu entdecken und wir haben definitiv Blut geleckt, auch weil uns – im Gegensatz zu anderen, die wir trafen – zum Glück nichts Blödes passiert ist. Der kleine Teil der Welt, den wir bereisen durften, hat sich uns stets wunderbar entdeckenswert präsentiert, uns immer wieder eingeladen, auch um die nächste Ecke zu schauen.