Die Brücken leben, doch Corona zerstört den Zauber

Liebe LeserInnen,
um euch vielleicht nicht allzu sehr auf die Folter zu spannen: uns geht’s gut. Vor 5 Tagen sind wir aus einem sich zunehmend isolisierenden Indien nach Thailand ausgeflogen und überlegen uns gerade hier in Bangkok, wie wir weitermachen. Wir müssen uns sortieren, die Lage beobachten, versuchen, ein Stückweit die Zukunft voraus zu sagen und mit dem Gedanken fertig werden, dass das Reisen, so wie wir es uns vorgestellt hatten, auf absehbare Zeit nicht mehr möglich sein wird. Corona sei Dank. Unser Traum von einer Weltreise ohne Flugzeug ist geplatzt, aber noch können wir uns nicht mit dem Gedanken anfreunden, unser Unterfangen komplett abzubrechen. Deshalb haben wir uns entschlossen hier etwas Zeit verstreichen zu lassen und von Tag zu Tag zu schauen, wie sich die Lage entwickelt.
In den letzten 3 bis 4 Wochen hat jedoch nicht nur das Virus unser Leben bestimmt und vielleicht helfen ja auch euch unsere Erzählungen, für einen Moment an schönere Dinge zu denken. Viel Spaß!

Als wir Kalkutta den Rücken kehren und die nächste Schlafwagen-Fahrt antreten, denken wir nicht, dass wir so schnell hierher zurückkehren werden. Nach knapp einer Woche haben wir das Gefühl, wir können uns guten Gewissens von ihr verabschieden. Was wir noch nicht wissen, ist, dass wir an Bord eines weiteren Nachtzugs sein werden, der uns gut 3 Wochen später erneut in den hiesigen Bahnhof bringt.

Doch zunächst geht es in den äußersten Norden Indiens, in die Provinz Sikkim. Wir fahren entlang der Grenze zu Bangladesh und kommen am nächsten Morgen in Siliguri, dem Drehkreuz für Weiterfahrten in den Nordosten, Darjeeling oder eben Sikkim, an. Wir verschnaufen einen Tag, aber weil Siliguri nicht viel mehr zu bieten hat als eine teure und zudem noch 2 Stunden entfernte Safari (auf der man immerhin die seltenen einhörnigen Nashörner sehen kann), entschließen wir uns, weiter in den Norden zu fahren.

Wer will sich nicht ein cute baby in die Küche hängen? Zu finden in Siliguri.

An der Grenze zum kleinsten Bundesland Indiens, das zwischen Nepal, China und Buthan eingequetscht ist, füllen wir hastig ein Formular aus, das bestätigt, dass wir in letzter Zeit keine Corona-typischen Symptome hatten. Der Bus wartet schon.
Weiter geht es durch saftig grüne Wälder und entlang des Tista-Flusses, der sich majestätisch durch tiefe Täler windet. Gegen Abend kommen wir in der Provinzhauptstadt Gangtok an. Hier auf 1500 Höhenmetern wird es nachts empfindlich frisch, dafür ist es auch die Luft, die wir in den nächsten Tagen atmen. Etwas ab vom Schuss liegt unser Hostel, und so laufen wir viel das hügelige Örtchen hinauf und hinunter. Nicht nur die Menschen hier sehen anders aus als im Rest Indiens (knapp 60% der Bevölkerung sind beispielsweise eingewanderte Nepalesen), auch sonst ist vieles erfrischend neu, so z. B. die Existenz einer Fußgängerzone ohne ohrenbetäubendes Dauerhupen, die natürlich trotzdem nach Gandhi benannt ist, dessen plastisches Abbild beide Enden der Meile schmückt. Zufällig erspäht Henriette ein Plakat, welches ein Filmfestival ankündigt und wir haben Glück: heute laufen die letzten Vorstellungen! Als wir noch eine gute Viertelstunde vom Lichtspieltheater entfernt ist, passiert jedoch etwas Ungewöhnliches: die Himmelsschleusen öffnen sich und entladen eimerweise dichten Regen. Wir sind denkbar unvorbereitet, ist es doch der erste Niederschlag seit Monaten für uns. Trotz des flugs gekauften Regenschirms sind wir nass bis auf die Unterhosen, als wir endlich in die Kinosessel plumpsen. Doch der uns dargebotene Film macht einiges wett: „Gully Boy“ ist eine der größten Produktionen des letzten Jahres und handelt von einem jungen Boy aus einfachen Verhältnissen (gully: Slang für Straße) in Mumbai und seinem Aufstieg zum Rapstar. Das Zuschauen macht großen Spaß, und zwar nicht nur, weil im Soundtrack gekonnt Bollywood-Elemente mit modernen Beats vermischt werden. Der Held der Geschichte ist Muslim und schafft es in klassischer Hip-Hop-Manier über etablierte Klassengrenzen hinweg vom No- zum Somebody. Am Ende wird Gully Boy bei seiner Rückkehr in seine alte Nachbarschaft frenetisch bejubelt, von Hindus und Moslems gleichermaßen.
Nach den anstrengenden Diskussionen mit zweien unserer Couchsurferinnen ist dieser Film trotz seiner dramaturgischen Einfachheit Balsam für die Seele und zeigt, dass die Kulturschaffenden auch hierzulande mehr Weitsicht zu haben scheinen als die Regierung, die sich mit Angstschürerei Wähler verschafft.

Drei Tage später fahren wir in das kleine Dörfchen Pedong, direkt an der Grenze zum Königreich Buthan, welches auch ein reizvolles Land und das einzige mit einer negativen CO2-Bilanz sein soll. Allerdings sind die Einreisebestimmungen für Touristen streng und mit derartigen Gebühren verbunden, dass ein Sich-Kennenlernen erstmal nicht zustande kommt. Stattdessen lassen wir uns auch in Pedong von reichlich Regenfällen begießen und erkunden zwischendurch die Umgebung. Das gleich um die Ecke liegende buddhistische Kloster wird im Moment nur von einem jungen Mönch bewohnt. Der Rest der über 100 Mann starken Bruderschaft sei derweil auf Pilgerreise nach Dharamsala, einer Kleinstadt im Nordwesten Indiens, wo der Dalai Lama seit über 50 Jahren im Exil lebt, erzählt er uns. Wir dürfen die Meditationshalle der Anlage besichtigen, wo die 3 lebensgroßen Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinter einer Glasscheibe milde auf uns hinunterlächeln.
In einem Gebäude etwas den Hügel hinauf befindet sich die prunkvoll verzierte Stupa, in welcher die sterblichen Überreste der 9. Reinkarnation einer der Gründer des Klosters aufbewahrt werden. Die aktuelle Reinkarnation ist gerade einmal 9 Jahre alt.

Nach einigen eher ruhigen Tagen in der frischen Bergluft wollen wir weiter in den Nordosten Indiens ziehen. Von Siliguri geht es nach Guwahati, der Hauptstadt Assams. Das Holi-Festival steht an. Als wir noch überlegen, es uns in Barpeta, einer 2 Stunden entfernten Stadt, wo Hindus das Fest in noch sehr traditioneller Art und Weise begehen, anzusehen, hören wir, dass es aufgrund des Corona-Virus wohl Beschränkungen bei der Anreise geben wird. Doch die Leute hier wirken gelassen. In Indien gäbe es noch unter 100 bestätigte Fälle von Infizierten und im gesamten Nordosten keinen einzigen. Doch langsam dämmert uns, dass das Virus auch unseren Plänen einen Strich durch die Rechnung machen könnte.
Doch zunächst wollen wir sehen, ob wir im von etwa 40% Muslimen bewohnten Guwahati trotzdem etwas vom dem Hindugott Krishna gewidmeten farbenfrohen Fest mitbekommen können. Doch außer ein paar Farbenverkäufern, vereinzelten Dekorationen und noch vereinsamten Bühnen ist nichts zu sehen. Als wir in eine Seitenstraße des als „Fancy Bazar“ bekannten Distrikts einbiegen, fällt uns jedoch eine kleine Menschenansammlung auf. Ein kleines Lagerfeuer soll wohl entfacht werden, jedoch tragen Männer auf Schnüre aufgefädelte Ringe aus getrocknetem Kuhdung statt Reisig heran. Frauen in prachtvollen roten Saris halten Schalen mit Opfergaben bereit, die sie den Flammen übergeben wollen. Ein dem ganzen scheinbar vorstehender Mann erklärt uns, alle Anwesenden wären miteinander verwandt. Ehe ein derartiges Ritual nicht abgeschlossen sei, dürfe man als gläubiger Hindu sein für diesen Tag anstehendes Fasten nicht beenden. Damit seine Familie schon bald die Festtagsspeisen verschmausen könne, seien sie früher als andere dran.
Wenige Minuten später brennt der Haufen, doch nur kurz haben die Umstehenden Zeit, einen Gesang anzustimmen, denn schon bald ist die ganze Straße von dickem beißenden Qualm gefüllt und jeder versucht, möglichst schnell noch seine rituellen Pflichten zu absolvieren, um sich anschließend in Sicherheit zu begeben.

Wir ziehen weiter zum bekanntesten Tempel der Stadt, dem Kamakhya. Die Legende besagt, dass er zu Ehren Satis, der Frau Shivas erbaut wurde, bzw. zu Ehren ihres Geschlechts. Als Sati trotz eines Verbots zu einem die Götter ehrenden Ritual ihres Vaters erschien, erboste sich dieser und verdammte nicht nur sie, sondern auch ihren nicht anwesenden Gemahl. Aus Wut und Verzweiflung soll Sati sich ins heilige Feuer gestürzt haben. Shiva, der für seine Barmherzigkeit und seine Fähigkeit, schlechtes Karma zu vertilgen, bekannt, aber auch der Gott der Zerstörung ist, verfiel daraufhin einem unbändigen Anfall von Rage, der erst durch die weise Tat Vishnus aufgehalten werden konnte, welcher den Leichnam Satis in 108 Stücken auf ganz Indien verteilte. Das Geschlecht Satis soll auf Guwahati gefallen sein und so feiert man im Tempel noch heute die Weiblichkeit und – tatsächlich – die Menstruation. Im Juni soll sich der nahe Fluss Brahmaputra gar rot färben und Hindus aus ganz Indien pilgern hierher, um sich einige Milliliter dieses heiligen Wassers abzufüllen. Eine fortschrittliche Message in einem Indien, dass seine uralten Bezüge zu Sexualität und Tantra leider weitgehend hinter sich gelassen hat.
Wir finden am Tempel vor allem betende oder feiernde Gläubige. Hier wurde sich anscheinend schon großzügig mit Farbe beworfen und auch unser langweiliges Äußeres wird schnell den Gepflogenheiten angepasst. In einem kleinen Nebenraum stimmen berauschte Männer zu wilden Rhythmen auf der Trommel lautstark Gesänge an und verteilen mit Cannabis versetztes Halva.

Doch ist Guwahati noch nicht, was wir im Nordosten Indiens gesucht haben. Deshalb fahren wir schon bald weiter nach Shillong. Hier gab es noch vor kurzem schwere Unruhen zwischen Moslems und Angehörigen des hiesigen meist christlichen Khasi-Stammes, in deren Verlauf mehrere Menschen starben. Jetzt scheint wieder Normalität eingekehrt zu sein, nur an den bewaffneten Soldaten auf den Straßen und den halbleeren Bars ist der Konflikt noch ablesbar. Wir bleiben eine Nacht, gucken uns einen furchtbaren lokalen Kinofilm zusammen mit einer durch Holi-Feierlichlichkeiten aufgeputschten Menge an und finden am Abend eine Kneipe, die es so auch in der Dresdner Neustadt geben könnte.
Doch trotzdem ist Shillong noch nicht wirklich, was wir im Nordosten Indiens gesucht haben.
Am nächsten Tag fahren wir weiter südlich und werden in Cherrapunjee das erste Mal direkt mit den Corona-Auswirkungen konfrontiert: das Hostel, das wir uns rausgesucht hatten, lehnt uns wegen Virus-Bedenken ab. Das ist nun wirklich nicht, was wir im Nordosten Indiens gesucht haben, also muss die Reise weitergehen.
Schnell ist glücklicherweise ein zweites Hostel gefunden, bei dem wir auch unseren halben Hausstand zwischenzeitlich einlagern dürfen. Uns steht ein kleiner aber anstrengender Abstieg in eines der herrlich grünen Täler Meghalayas bevor. Nach Nongriat geht es am nächsten Morgen, einem abgeschiedenen Dorf im Nirgendwo, welches für seine lebenden Wurzelbrücken bekannt ist, derer es ein gutes Dutzend im angrenzenden Dschungel gibt.

Meghalaya

Nach unserer Ankunft steht schnell fest: das ist der Ort, den wir im Nordosten Indiens gesucht haben. Die Geräusche des Dschungels sind allgegenwärtig, als wir zu ersten Erkundungstouren aufbrechen. Meghalaya ist als der Bundesstaat der Wasserfälle bekannt. Die Spitzen der umliegenden Bergketten bestehen aus Kalkgestein, aus welchem sich besonders viele Quellen in die Täler ergießen. Das Wasser ist kristallklar, trinkbar und formt immer wieder die schönsten natürlichen Pools in den Fels. Wir sind hin und weg. Stundenlang können wir hier durch die Gegend laufen, die Wurzelbrücken überqueren und wie zwei Alices im Wunderland uns von den unzähligen bunten und handtellergroßen Schmetterlingen umflattern lassen.

An unserem letzten Tag – it happened to be a Sunday – machen wir uns zusammen mit Pablo, einem weiterem netten Berliner Jung, den wir hier kennenlernen dürfen, seiner herrlichen Gastgeberin Leenis und einer weiteren Familie auf den Weg zum Gottesdienst, welcher jeden Sonntag in einem anderen Dorf stattfindet. Dieses Mal ist die Wahl auf Tynrong gefallen, einem etwas größeren Dschungel-Dörfchen schlappe zweieinhalb Stunden Fußmarsch von Nongriat entfernt. Zu unserem Unglück geht es auch noch stolze 900 Höhenmeter hinauf. Auf dem Weg stoßen die Frauen gellende Laute aus (generell geht in den Stämmen des Nordostens viel Initiative von den Frauen aus, die Gemeinschaften sind maternalistisch geprägt), die von nah und fern erwidert werden und unsere Gruppe stetig wachsen lassen. Kurz bevor wir das Dorf des Geschehens betreten, wird noch einmal eine Rast eingelegt. Die Männer stecken sich noch eine Beedie (kurze indische Zigarette) an und wechseln ihr Tanktop gegen ein schickes Hemd, die Frauen tauschen Flip Flops gegen feines Schuhwerk. Schon von weitem sind die nochmals übers Megafon verstärkten Gesänge zu hören und tatsächlich stammen sie aus zwei Kirchen. An der ersten, der evangelischen gehen wir zügigen Schrittes vorbei, sie wirkt nicht stark besucht, die zweite, katholische hingegen ist fast bis auf den letzten Platz belegt. Untrainiert wie wir sind, wollen wir uns nur noch in die harten Kirchenbänke sinken lassen, aber offensichtlich ist hier gerade die Zeit des Stehens angebrochen. Endlich ist die Zeremonie aber überstanden und während Leenis und die anderen Frauen ihre Betelnüsse auspacken, bekommen wir süßen Tee und Kekse serviert, unsere zweite Mahlzeit nach den obligatorischen Magginudeln, die hier zum Frühstück mit einem Spiegelei verfeinert werden.
Pablo ist mittlerweile von einem jungen Dorfbewohner in ein anderes Haus eingeladen worden, der ihn und wenig später auch uns mit seinen Fremdsprachenkenntnissen überrascht und kurzerhand Reis mit Omelette zubereitet. Nach so viel Gastfreundlichkeit machen wir uns ganz beseelt schließlich auf den Rückweg.

Es ist herrlich hier, ein definitives Highlight unserer Indien-Erfahrungen und statt der geplanten 2 bleiben wir am Ende 4 Nächte. Aber selbst mitten im Dschungel gibt es Internet und täglich kommen einige neue Touristen an, die sich hier für die nächste Zeit einigeln wollen. Von einem israelischen Pärchen hören wir schließlich, dass Indien seine Landgrenze zu Myanmar bis auf Weiteres geschlossen hat. Unsere wunderschön ausgetüftelte Überland-Route ist uns versperrt. Spätestens jetzt wird klar: wir brauchen einen neuen Plan und zwar möglichst, bevor eine Ausreise noch schwieriger wird. Kurz überlegen wir, nach Myanmar zu fliegen, aber auch dort scheint die Situation unübersichtlich zu werden. In Facebook-Gruppen lesen wir von verunsicherten Touristen und widersprüchlich handelnden Behörden. Außerdem wäre das Land im Südosten Asiens wohl am schlechtesten auf eine ausbrechende Pandemie vorbereitet. Uns selber in Nongriat einzurichten klingt verlockend, aber wir haben das Gefühl, selbst hier fällt uns in spätestens 2 Wochen die Decke auf den Kopf. Schließlich steht unsere Entscheidung fest: wir fliegen nach Thailand, um wenigstens auf Kurs zu bleiben.
Wehmütig verabschieden wir uns vom Paradies und reisen ab.

Es soll, es muss jetzt schnell gehen. Kurz nur verweilen wir nochmals in Guwahati, um letzte Besorgungen zu machen und uns ein halbwegs offizielles Zertifikat zu besorgen, welches bestätigt, dass wir keine Symptome haben. Schon im Zug nach Kalkutta sitzend, buchen wir das Flugticket und finden uns 18 Stunden später am Flughafen wieder. So hatten wir uns unseren Abschied von Indien nicht vorgestellt…

In Bangkok angekommen, erschlägt uns erst einmal die Hitze. Henriette bemüht die schönen Vergleiche „Luft so dick wie Joghurt“ und „Ich fühle mich wie Apfelmus“. Doch die sonst so quirlige Hauptstadt bereitet uns einen entspannten Empfang. Die Straßen sind sauber und der Verkehr schlängelt sich fast lautlos durch die Straßen. Zu irgend etwas muss dieses scheiß Virus schließlich auch gut sein. Immerhin haben die berühmten Garküchen an den Straßenrändern noch auf und schnell merken wir, dass wir erneut in einem Street-Food-Paradies gelandet sind. Weil aber so gut wie alles andere auch hier geschlossen hat, haben wir genug Zeit, uns ein weiteres Vorgehen zu überlegen. Wollen wir uns nach einem neuen schönen Plätzchen umsehen, wo wir für längere Zeit bleiben könnten? Versuchen wir uns ein Gefährt zu besorgen, um unabhängiger und mehr „social distanced“ unterwegs sein zu können? Müssen wir uns am Ende doch in eine von Heikos Maschinen nach Hause setzen?

Es bleibt spannend, bleiben Sie dran.

Grüße aus Bangkok: Buddha in Quarantäne.

Von Chennai nach Kalkutta: eine gelebte Utopie und Streitgespräche

In den letzten Wochen wandelten wir durch die Labyrinthe großstädtischer Strukturen und streiften auf trockenem, sandigen Grund umgeben vom indischen Dschungel entlang der Ostküste Indiens gen Norden.
Beim Blick über die Schulter zurück in den kürzesten Monat des Jahres finden sich unsere Tagebücher mit divers kolorierten Niederschriften bestückt, die neben unseren persönlichen Eindrücken von Wahrnehmungen und Meinungen von InderInnen handeln –  zur eigenen indischen Identität, dem Umgang und der Akzeptanz von Religionen und der Gleichberechtigung der Geschlechter – und unterschiedlicher und kontroverser nicht hätten sein können. Ihre Erzählungen verlaufen wie ein roter Faden durch unsere letzten Wochen, den wir doch diesmal, mehr als in den ersten beiden Monaten in Indien, vor allem mit den Einheimischen gemeinsam gesponnen haben.

Wir performen den berühmten indischen Kopfwackler zusammen mit unserer Gastgeberin Shalini in Kalkutta.

Nach unserem Aufbruch aus Vattakanal teilt unser Gastgeber Saravana in Madurai mit uns den neu in den hiesigen Kinos erschienenen zweistündigen Actionfilm und Publikumserfolg „Darbar“, in dem sein Idol aus Kindertagen, Rajinikanth mit  stattlichen 69 Jahren noch immer böse Schurken auf der Leinwand überlistet.
Kampfszenen und das immer wieder von außen angewehte Haar der FilmdarstellerInnen wird dramaturgisch allzu gern in Zeitlupe gezeigt und die uns aus dem Bollywoodfilmen bekannten Tanzszenen lassen uns tief in unsere Sessel sinken und unseren ersten indischen Kinofilm in vollen Zügen genießen.

Doch bevor wir uns an Käsepopcorn und dem angepriesenen Filmstreifen frönen, wird sich  erhoben, um gemeinsam mit den anderen KinobesucherInnen die indische Nationalhymne zu singen. Wir folgen dem Ereignis etwas verwundert, aber dennoch gehorsam und erfahren später, dass dieses Vorspiel in ganz Indien ein fester Bestandteil eines jeden Kinobesuchs ist.

Film 1×1: Filmproduktionen aus Tamil Nadu werden als Tollywood bezeichnet, bei Filmproduktionen aus Mumbai spricht man von Mollywood und bei Produktionen, die Geschichten und Darsteller aus ganz Indien umfassen, handelt es sich dann schließlich um Bollywoodfilme. 

Wie stolz die Menschen in Indien im Allgemeinen, aber auch wie vernarrt diese im Besonderen im Bundesstaat Tamil Nadu in ihre Filmstars sind, zeigt deren vielfach gewählter Berufseinstieg nach Ausscheiden aus dem Filmbusiness in die Politik, der durch die große Anhängerschaft meist nicht minder erfolgreich verläuft.
Neben diesem aktuellen Einblick ins südindische Kino unternehmen wir mit Saravana auch eine Reise in die traditionsbehaftete Vergangenheit der Region, indem wir ihm in ein nahegelegenes Dorf folgen.

Wir begegnen hier der wohl letzten Generation von WeberInnen, die an ihren raumfüllenden Webstühlen, in denen sich die rund 1600 gespannten Fäden nur einen Hauch von einander entfernt eingereiht haben, in tagelanger Handarbeit Saris (aus Baumwolle und Seide) herstellen. Wir sind tief beeindruckt von ihrem Handwerk und dankbar für Saravanas Einladung.
Für einen handgewebten Sari aus Baumwolle erhalten die WeberInnen rund 500 Rupie, umgerechnet 6 €, der mit einem Arbeitsaufwand von mehreren Tagen zu Buche schlägt. Ihre Kinder zieht es derweil in die Städte, so erzählen uns die KünstlerInnen mit dem Garn, wo Arbeitsangebote mit besserer Bezahlung Hoffnung auf eine wohlhabendere Zukunft geben.

Dann geht es nach Pondicherry und Auroville. Viel haben wir schon über den Ort, der sich selbst mit dem Titel „größte, internationale Kommune“ schmückt, gelesen und sind voller Neugier und vielen, vielen Fragen.
Den Grundstein für dieses Projekt legte die bereits 1973 verstorbene Französin Mira Alfassa, die von den Menschen hier anerkennend, wenn nicht glorifizierend als „the mother“ in Erinnerung behalten wird. Ihr Antlitz und das von Sri Aurobindo, einem indischen Yogi und Philosophen, dessen Ideen sich stark inspirierend auf die Sichtweisen „der Mutter“ auswirkten, finden sich an vielen öffentlichen Orten von Auroville.

Zur Einweihungsfeier von Auroville 1968 kamen Menschen aus 124 Nationen. Die von ihnen aus ihrem Heimatland mitgebrachte Handvoll Erde stand damals wie auch heute sinnbildlich für die Idee, einen Ort zu schaffen, staatenunabhängig, für Menschen jeglicher Herkunft und Hautfarbe. Die vorangegangenen Kriege und neuen politischen Herausforderungen in aller Welt ermutigten Alfassa damals in ihrem Vorhaben für eben so einen Ort, dem ab 1988 durch den Auroville Foundation Act besonderer Schutz des indischen Staates zuteil wurde.
Am Anfang des Projekts sahen sich die Anhänger mit staubtrockener, blutroter Erde konfrontiert, die weder Schatten noch Wasserquellen bot.
Bei unserer Teilnahme an einer öffentlichen Führung lernen wir B kennen, der sich von seinen restlichen drei Buchstaben „ill“ bereits vor Jahrzehnten verabschiedete und sich heute mehr mit dem englischen „to be“ identifiziert. Er erzählt von seinem Ankommen in den 1970er Jahren und den vielen Menschen, die kamen und doch wieder gingen, der Herausforderungen müde geworden. Die, die blieben, vereinte der unbändige Wille, die Utopie doch noch Wirklichkeit werden zu lassen.

Heute ist Auroville eine grüne Oase, die durch Millionen gepflanzter Bäume und erschlossenen Wasserquellen für knapp 2500 Menschen aus 50 Nationen einen Ort zum Leben bietet.
Die Willenskraft und der Idealismus jener Menschen, die dieses Projekt begannen und bis heute weiterführen, zeigt für uns in gewisser Weise, was durch eigenes Handeln möglich ist.
Doch bemerken wir auch die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit welchen sich dieses Projekt konfrontiert sieht. Obwohl eine der Hauptideen des Projekts darin besteht, ohne Geld auszukommen, ist die Community mehr denn je auf die knapp 90.000 BesucherInnen pro Jahr angewiesen, die den nötigen Zaster reinbringen. Und auch wir machen uns gerne mitschuldig und schmausen heimische Leckereien wie Pizza und Schwarzbrot zu europäischen Preisen.

Im Mittelpunkt der Stadt befindet sich das hier als Ort der stillen Meditation beschriebene goldene Gebäude Aurovilles – der Matrimandir, erst seit 12 Jahren nach über 30jähriger Bauphase vollendet.
Um diesen Ort vor Besucherströmen zu bewahren, dürfen wir als Außenstehende nur in den Morgenstunden als knapp 30köpfige Gruppe in Begleitung von einem Aurovillaner hinein.
In strahlend weißen Tennissocken, die uns im Eingangsbereich ausgehändigt werden, erreichen wir mit leisen und bedächtigen Schritten die Herzkammer jenes utopisch anmutenden Gebäudes. Den runden Raum mit hohen Decken erhellt nur ein durch einen Spiegel im Dach gelenkter Lichtstrahl, der auf eine mittig positionierten Kristallkugel fällt. Wir erfahren für einige Minuten, trotz der großen Gruppe von Menschen, eine tiefe und intensive Stille.

Matrimandir, das Herzstück Aurovilles.

Neben jenen ruhigen Momenten, die wir hier erleben dürfen, geben wir zwischendurch auch gerne mal Gas. Zu seinem Ehrentag wird Nikolas mit einem ausgeliehenen Scooter ein wilder Ritt durch Aurovilles kleine grüne Pfade mit leckeren Gaumenpausen beschert und die überall zu findende frische Luft weht ihm dabei wohlgesonnen durch das immer länger werdende Rockerhaar. Sirish, eine weitere liebenswerte Bekanntschaft, die wir über unsere Internetcouchsuche kennen lernen, soll Nikolas‘ Fahrstil in den nächsten Tagen noch mit dem eines wagemutigen Inders vergleichen.

Neben Sirishs Sinn für Humor, der uns nicht selten schmunzeln lässt, schenkt er uns darüber hinaus Unterstützung auf dem uns noch unbekannten Terrain der Meditation. Er erzählt uns außerdem von seiner Freiwilligenarbeit mit der Motivation, Hindus und Muslims im eigenen Land wieder zu vereinen und alte Wunden, die u.a. durch persönliche Fluchterfahrungen, die auf beiden Seiten durch die Teilung Indiens erlebt wurden, zu heilen.

Da wir noch nicht so recht weiterwollen, schließen wir nach unseren ersten Tagen in Auroville einen einwöchigen Aufenthalt bei Glory und ihrer Milchfarm als Freiwillige an. Glory beliefert mit ihrer Milch lediglich den mit Auroville verbundenen Ashram in Pondicherry, welcher für die Weiterverarbeitung zu Käse, Butter und Joghurt und deren Verteilung an die anderen beteiligten Projekte zuständig ist und erhält dafür im Gegenzug andere Naturalien und die nötigen finanziellen Mittel, um den Hof weiterhin wettbewerbsfrei zu betreiben.
Auch hier genießen wir einen regen Austausch über Indiens Geschichte und sind erst einmal erstaunt, auf jemanden zu treffen, der so gar nicht Fan von Ghandi ist.
Für Glory wiegen die traumatischen Erfahrungen ihrer Familie, die aus dem heutigen Bangladesh nach der Teilung Indiens 1947 fliehen und all ihr Hab und Gut zurücklassen musste, schwerer als Ghandis Beitrag zum unabhängigen Staat Indien.

Wer mehr über Auroville erfahren möchte, sollte sich den sehr detailliert und gut geschriebenen Artikeln unserer beider LieblingsbloggerInnen widmen, die 10 ganze Monate im Projekt verbracht haben. Hier entlang!

Es geht landaufwärts Richtung Chennai.
Bei Prabha kurz vor Chennai sind wir in Indien zum ersten Mal bei (protestantischen) Christen zu Gast, die uns an ihrer Abendandacht im familiären Kreis teilnehmen lassen.
Mit Prabha lernen wir eine Frau kennen, die in ihrer Jugend gegen ihre Familie und das immer noch bestehende Kastensystem aufbegehrte und sich für eine Liebesheirat und einen Mann aus einer niederen Kaste entschied.
Während unseres Aufenthalts in Chennai selbst treffen wir dann auf Santhosh, der uns ein Bett, welches sonst nur den geladenen Hochzeitsgästen seiner betriebenen Festhalle für indische Heiratszeremonien vorbehalten ist, anbietet. Wir bekommen eine Führung durch die festlichen Räume und dabei gleichzeitig einen Schock, als er für uns den Preis einer solchen eintägigen Zeremonie zusammen rechnet. Mindestens 15.000€ muss man hier (wo Gehälter weit unter dem westlichen Durchschnitt liegen) auf den Tisch legen, um im Gegenzug für die rund 1000 geladenen Gäste, neben prunkvoller (und leicht demolierter) Dekoration und Speis und Trank auch die gewünschte musikalische Abendbegleitung zu erhalten.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfahren wir auch über die hohe Bürde für Eltern mit  Töchtern, denn sie allein stehen in der Schuld, die Kosten für die Heirat zu tragen. So will es die Tradition, scherzt Santhosh, der zu seiner Freude 2 kleine Söhne hat. Geschmeide aus Gold und edle, teure Kleidungsstücke, die sich auch ganz besonders häufig auf Werbeplakaten auf den Straßen oder in der Kinowerbung finden, gehören ebenso zu den eingeforderten Gaben jener Eheschließungen. Dass die gesellschaftlich festgelegten Normen damit große Ängste um das eigene Ansehen schüren und dabei so manche Familie in den wirtschaftlichen Ruin treiben, hatte in der Vergangenheit nicht selten zur Folge, daß viele Familien sich in ihrer Verzweiflung dazu getrieben fühlten, ihre eigenen weiblichen Föten abzutreiben oder kurz nach der Geburt zu töten. Heutzutage ist es den
Ärzten untersagt, das Geschlecht des Kindes während der Schwangerschaft zu offenbaren. Auch wenn sich Santhosh uns gegenüber offen für eine Lockerung des Kastensystems und alter Traditionen zeigt, ist er in Bezug auf seine eigenen Söhne dann doch weniger liberal und wünscht sich künftige Schwiegertöchter aus der eigenen wohl situierten Klasse.

Henriette mit neuer Bekanntschaft kurz vor Abfahrt in Chennai.

Bevor es in recht großen Schritten und mit vielen Stunden in einem Bahnwagon nach Kalkutta geht, machen wir noch einen kurzen Ausflug ans Meer und nach Puri. Hier befinden wir uns in einem Urlaubsdomizil für beinahe ausschließlich indische Touristen und erleben neben der abendlichen Strandunterhaltung mit Kamel- und Pferdereiten ein Meer von bunten Sonnenschirmen erhellt durch grelle Lichtkegel, unter denen viele bunte unnütze Dinge als Erinnerungsstücke locken. Wir dagegen fokussieren uns wie immer auf neue kulinarischen Entdeckungen und werden belohnt.

Fast schon in alter Tradition wechseln wir uns dann in Kalkutta erst einmal gegenseitig mit fiesen Bazillen und Erkältungenstürmen ab. Shalini, unsere hiesige Gastgeberin, bietet uns dabei einen Ort zum Gesundwerden und kümmert sich rührend um unsere erkrankten, müden Körper.

Trotz all der Infekte findet sich auch ein wenig Zeit, das als Kulturstadt geltende Kalkutta auf eigene Faust zu erkunden. Das Straßenbild im Mantel alter, gebrechlicher Gemäuer aus früherer Kolonialzeit wird durch die hier charakterischen gelben Ambassador-Taxis charmant ergänzt. Wenn man sich vom Blick des an so mancher Straßenecke zu findenden Inders, der vertieft in seiner Zeitungslektüre verweilt, löst, so hat man gute Chancen, auch die hiesigen Piloten hinterm Busfahrersteuer ausfindig zu machen und im Vorbeifahren schnell dazuzusteigen.


Sofern als Frühaufsteher auf den Nebenstraßen dieser 4,5 Mio.-Metropole unterwegs, begegnet man den kleinen Männertrauben mit eingeseiften Körpern beim morgendlichen Bad neben dem Gehweg unterm Wasserstrahl oder kann zwischen gelben und anders farbigen Blüten auf dem Blumenmarkt mit dem wilden Treiben gänzlich verschmelzen. Dass das Essen an den Straßenstränden noch günstiger ist als in anderen Großstädten  Indiens gibt Auskunft darüber, wie arm diese Stadt und viele ihrer BewohnerInnen sind. Wohnungen finden sich hier mitunter schon für umgerechnet 100 Euro pro Monat, was in anderen Großstädten undenkbar wäre, so erfahren wir. Für all diejenigen, für die dieser Betrag eine privatwirtschaftliche Hürde darstellt, müssen improvisierte Hütten am Straßenrand als Obdacht dienen. Wenn das Tagesgeschäft an den Essensständen sein Ende findet, wandelt sich der Arbeitsplatz zur nächtlichen Schlafstätte. Zusammengerollte Körper unter dünnen Stofftüchern auf den eigenen notdürftig zusammengeschusterten Ladentheken, die sich an den großen Straßen auf dem Bürgersteigen eng aneinander reihen, sind die ersten Bilder, denen wir in Kalkutta bei unserer nächtlichen Ankunft begegnen.

Die Hindustan Ambassador Modelle wurden noch bis 2014 nach dem britischen Morris Oxford III gebaut, für dessen Nachbauten in den 50ern eine Lizenz erworben wurde.

Wie auch schon in den Gesprächen auf der Milchfarm bei Glory kommt es auch hier mit unserer Gastgeberin zur hitzigen Diskussion über die Akzeptanz und die Einwanderung von Muslimen. Dabei ist die Angst auch Shalinis, dass die hiesigen 14% Muslime den 80%  Hindus „ihr“ Land wegnehmen. Abgesehen davon, dass der Islam schon seit vielen Jahrhunderten Teil der indischen Bevölkerung ist, kommt uns diese Furcht ähnlich irrational vor wie in Deutschland.
Während Donald Trump an jenen Tagen Indien einen Staatsbesuch abstattet und sich vom indischen Präsidenten Modi den Taj Mahal zeigen lässt, gibt es in vielen Städten des Landes, wie auch hier, Proteste gegen das von der nationalistischen Regierung verabschiedete sogenannte Staatsbürgerschaftsgesetz. In Dehli kommt es zu schweren Zusammenstößen zwischen Hindus, Moslems und den oft viel zu spät eingreifenden Sicherheitskräften, bei denen über 20 Menschen sterben.
Das Gesetz besagt u. a., dass religiös verfolgten Minderheiten, die vor 2014 nach Indien gekommen sind, schon nach 5 Jahren Aufenthalt die indische Staatsbürgerschaft zugesprochen werden kann. Entgegen der indischen Verfassung, in der das als säkularer Staat bezeichnete Land gleiches Recht für alle Menschen, unabhängig ihrer Religion, zusichert, werden hier allerdings Menschen muslimischen Glaubens von diesem Gesetz explizit ausgeschlossen.

Der Telegraph übt deutliche Kritik an der späten Stellungnahme des indischen Premiers zu den Ausschreitungen in Dehli.

Wer mehr erfahren möchte, sei auf diesen Artikel des ZDF verwiesen.

Die rechte Regierung scheint auch hier die Gesellschaft zu spalten. Bisher haben wir leider keine Begegnungen mit der muslimischen Bevölkerung. Zu gerne würden wir aber auch von ihnen Meinungen hören und erfahren, wie ihr Leben in diesem angespannten Klima aussieht.

Graffiti in Kalkutta. Eigentlich eindeutig.

Zu dritt durch Indiens Süden

25. Januar 2020. Der neue Morgen in Vattakanal lädt zum vorerst letzten Frühstück im Trio, bevor sich unsere Wege nach langer Zeit wieder trennen.
Vor knapp 7 Wochen treffen wir auf Christian, von seinen Freunden auch liebevoll Mölli genannt. Der Berliner Jung ist, wie auch wir, zwischen Wellen und Sand in Agonda, im Bundesstaat Goa, auf der Suche nach ein paar ruhigen und entspannten Tagen unter der indischen Sonne und wir sind uns beim Schnack am Strand gleich sympathisch. Zusammen mit Coralie, die im gleichen Dschungelnest, indem auch wir Unterschlupf finden, nächtigt, erleben wir an jenen Tagen so manches Abenteuer auf den hier als Scooties (Roller) bekannten Transportvehikeln. Neben verlassenen Stränden, an denen auch ein Tom Hanks wie im Hollywoodstreifen „Cast away“ hätte stranden können, bemerken wir zudem schnell die gemeinsame Vorliebe des Speisens und Probierens.

Mit der Regionalbahn nach Agonda.

Da wir einander mögen und es uns alle weiter entlang der Küste zieht, reisen wir als Vierergespann für die weihnachtlichen Feiertage nach Gokarna, im Bundesstaat Karnataka, weiter. Hier verbringen wir, umgehen von einer heiteren Schar von RentnerInnen (wir erwarteten viel mehr Hippies – junge Hippies) und jungen InderInnen das christliche Fest, über das lediglich die vereinzelt zu findenden roten Mützen auf Kinderköpfen und die Krippen mit Nashorn, Elefant und bunten Lichterketten Aufschluss geben. Unsere Alternative zu festlichem Braten und weihnachtlichen Plätzchen sind u.a. die auf den Speisekarten zu findenden „Chocoballs“, die uns täglich aufs Neue beglücken und dessen Zubereitung wir nur allzu gerne mit den süßen Schelmen unter euch teilen.

– Indian Chocoballs –

Man nehme:

  • Butterkekse
  • Butter
  • Milch
  • Kakaopulver
  • Kokosraspeln

Da mich der Koch nur kurz über seine Schulter schauen ließ, muss bei den Mengenangaben der eigenen Erfahrung vertraut oder ein erfahrener Assistent oder eine Assistentin zu Rate gezogen werden. Die Konsistenz betreffend, kann sich an den in unseren Gefilden als „Energyballs“ bekannten Bällen orientiert werden.

Aus viel macht eins – so gehts:
Butterkekse mit vorhandenem Küchengerät oder eigener Körperkraft zu Pulver verarbeiten. Dieses dann mit sehr weicher Butter, Kakaopulver und Milch zu einer schlonzigen Masse verarbeiten und mit Lust und Laune zu kleinen und großen Kugeln formen. Den letzten Schliff verleihen dem Endprodukt die Kokosraspeln, in denen der Chocoball gerne auch frivol und unermüdlich gewälzt werden kann. Je nach gusto.

Tipp: Besonders lecker sind die süßen Bälle, wenn sie mit warmer Milch zubereitet und gleich darauf verputzt werden.

Mit jener Schlemmerei vergehen die herrlich faulen Tage wie im Flüge. Mittagsschläfchen werden zum täglichen Ritual, wir verschwinden immer wieder wie kleine Leseratten in den Welten unserer Lektüren und genießen die Vorzüge des Strandlebens mit täglichen Erholungsauflügen ins salzige Nass. Auch das Universum überrascht uns mit einer 90-prozentigen Sonnenfinsternis, die es mitten am 2. Weihnachtsfeiertag dunkler um uns werden lässt und die viele Hindus zum Anlass für ein heilendes Bad im Meer nehmen.

Zum Jahresumschwung machen wir uns dann zusammen mit Christian auf den Weg ins Landesinnere nach Hampi, einem weiteren touristischen Absteigenest. Es erwarten uns herrliche Reisfelder in strahlendem Grün zwischen Palmen und Felsformationen, die wir beklettern und erklimmen. Aber auch einige Tempel kundschaften wir aus, lernen neben Shiva und Ganehsa weitere Gottheiten wie den affenähnlichen Hanuman kennen und finden ein nettes, kleines Straßenlokal, in dem wir der Großmutter beim Schaukeln der kleinen Enkelin zuschauen dürfen, während wir glücklich und froh unser Abendmahl einnehmen.
Ein langes Tuch ist durch eine simple Konstruktion durch eine Öse an der Decke gezogen und hängt hinab. Mit einer Kuhle fürs Kind und einem Seil zum Ziehen darf auch Christian beim nächsten Besuch die ehrenvolle Aufgabe des Strippenziehers übernehmen.

In der Nacht, in der das neue Jahr beginnt, bestaunen wir auf einem großen Felsen die zwei wohl hellsten und längsten Sternschnuppen seit der Entstehung der Menschheit! und sind erwartungsvoll und neugierig auf das kommende Jahr und den damit für uns verbundenen unbekannten Ländern, Menschen und ihren Geschichten, denen wir hoffentlich auch zukünftig begegnen und zuhören dürfen.

Landschaft in Hampis Umgebung.
Ein Pilger erfreut sich unserer Linse.

Auf unserem Weg in den Bundesstaat Kerala überlässt uns unser Couchsurfer in Bengalore (Karnataka) noch kurzerhand seine Wohnung ganz für uns allein, da er sich gerade selbst im Urlaub befindet. Neben der Erkundung der reich an Konsumtempeln mit großen uns bekannter Ketten für teuren Kaffee oder Outdoorkleidung gezierten Straßen, kaufen wir in den ruhigeren Gassen fernab des Zentrums bei einem Chipsverkäufer eine Auswahl an eigens von ihm frittierten Kartoffeln und Bananen und treffen auf das eine oder andere alte Mütterchen, welches auf robusten Holzkarren Obst und Gemüse zum Verkauf anbietet, sowie auf alte Handwerkskunst in Form von Hand bestickter Kleidung.

Nur Mülleimer sind schwer zu finden und ich laufe etwas hilflos mit meiner Tüte Abfall durch die Straßen, ohne Möglichkeit, diese zu entsorgen. Der Geruch von brennendem Plastik beschreibt nicht selten das hiesige Problem einer fehlenden Müllabfuhr. Dass Deutschland nach Recherchen der taz jährlich ca. 70.000 Tonnen an Kunststoffabfällen zusätzlich nach Indien verschifft, lässt einen nicht minder verärgert und ratlos zurück.
Auch wenn es Bestrebungen von Seiten der indischen Regierung gibt, der hiesigen Plastikflut und im Speziellen Plastiktüten durch ein Ultimatum, was an alle Bundesstaaten Indiens gerichtet ist, bis 2023 vollständig aus dem Land zu verbannen und durch recyclingfähiges Plastik zu ersetzen, Einhalt zu bieten, so haben wir als außenstehende Beobachter und im Gespräch mit anderen InderInnen das Gefühl, dass es weiterhin viel Aufklärung und Zeit für Umgewöhnung von Gewohnheiten braucht. Die Abfallberge am Straßenrand und Verpackungen von Süßem und Chips, welche allzu oft aus den Händen gedankenverloren auf dem Boden landen, begegnen uns alltäglich.

Wir hörten und lasen bereits viel über den mit am südlichsten gelegenen Bundesstaat Indiens, Kerala, welches auch als Land der Kokospalmen übersetzt werden kann.
Auf unserer Zufahrt nach Alleppey, einer Hafenstadt mit stehenden Gewässern im Hinterland, treffen wir auf große Gruppen von Pilgern, deren Dhotis (langes Stück Stoff, von ihnen auch als langer Rock getragen) am Bahnhof in Bengalore zum in der Sonne trocknen an einigen Zugwagons hängen. Gefüllte Päckchen mit Blumen-(Ketten) und anderen Gaben werden auf ihrer jährlichen Pilgerreise in die Berge zum geweihten Tempel Sabarimala getragen, einem der größten Wallfahrtsziele Indiens mit mehr als 40 Mio. BesucherInnen pro Jahr. Auch wenn es Frauen jeglichen Alters durch ein Gesetz von 2018 nun auch gestattet sein soll, diesen Tempel zu besuchen, sehen wir ausschließlich Männer und hören auch von starken Protesten Konservativer, die dieses Gesetz wieder kippen wollen.

In Alleppey selbst werden wir von vielen leuchtenden Augen und beglückender Freundlichkeit empfangen. Unter Einfluss der portugiesischen Kolonialgeschichte finden sich hier viele alte, kleine Kirchengebäude. Doch auch bunte und reich verzierte hinduistische Tempel und Moscheen, die uns mit ihren Gebeten bei Spaziergängen zum Strand begleiten, bekommen wir zu Gesicht. Gerade im Bundesstaat Kerala ist der Anteil der muslimischen Bevölkerung im Landesvergleich mit 27% relativ hoch und doch haben wir das Gefühl, dass die Bevölkerung hier bezüglich ihrer diversen Glaubensrichtungen einander genügend Akzeptanz und Respekt schenkt, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten.

Auch begegnet uns nicht selten Hammer und Sichel auf Plakaten oder als kleines Denkmal im Grünen, während wir mit den lokalen Fähren die Gewässer der Stadt bereisen. Grund dafür ist die kommunistische Partei CPI, die abwechselnd mit den Sozialisten Kerala seit Indiens Unabhängigkeit regiert und vielleicht auch dazu beigetragen hat, dass es hier im landesweiten Vergleich die geringste Korruptionsrate vorzuweisen gibt.

Während Nikolas in den nächsten Tagen seinem widerspenstigen Halskratzen den finalen Kampf ansagt, treffe ich erneut auf Köchin Saphina, die mir auf Nachfrage erlaubt, sie noch einmal persönlich in der Küche ihres Restaurants am Strand zu besuchen. Die in ganz Indien zu erwerbende Brotware Paratha, die zu Dhal und vielen anderen Speisen gereicht werden kann, möchte ich heute selbst einmal zubereiten. Mehl, Wasser und Ei sind rasch zusammengeführt und auch das Kneten ist vollbracht. Doch nach dem Portionieren und Ausrollen des Teiges beginnt Saphina den Teig über ihrem Kopf wie ein Lasso mit einer speziellen Technik zu drehen und mit voller Wucht auf die Arbeitsfläche zu klatschen. In irrsinnigem Tempo wiederholt sie jenes Kunststück für einige Male. Meine Versuche enden mit einem eher niedergeschlagenen, traurigen und zerlöchtertem Teig, der seinen Weg im Vergleich nur langsam und unbeholfen zurück auf die Küchenplatte findet. Und dennoch kehre ich mit ein paar wenigen geglückten Paratha für Christian und Nikolas zurück in unser nächtliches Schlafquartier und verweile in Gedanken für ein paar weitere Tage ein wenig verliebt in Saphina, in ihr Lächeln und ihre Gastfreundschaft. Sie steht für uns stellvertretend für die Mentalität des Südens, welche sich durch eine entspannte, besonnene und aufrichtige Herzlichkeit ihrer Bewohner auszeichnet.

Nachdem wir alle drei wieder gut zu Fuß sind, begeben wir uns in die Berge. It’s teatime! Es geht ins kleine Örtchen Munnar, wo schon seit den 1880er Jahren Tee angebaut wird. Durch Zufall lernen wir zwei junge Inder kennen, Anas und Nasin, die uns kurzerhand mit in die Natur nach Kolukkumalai nehmen. Dort treffen wir auf ihre ulkigen Freunde, wie Albert und Jobi, mit denen wir uns gemeinsam auf Wanderschaft durch die Teeplantagen begeben, während sie dabei ihre neu ergatterten deutschen Wörter, wie den Favoriten aller, „Hallöchen Popöchen“, in herrlichen Variationen zum Besten geben.

Neuinterpretation des von uns gelehrten „Gute Nacht“ und „Hallöchen Popöchen“ 3 Tage später!
Gut gelaunte Teepflückerinnen bei der Arbeit.

Raju, der das Hostel in Munnar leitet (in dem wir endlich wieder einmal unser Zelt aufschlagen dürfen) ist vor zwei Jahren aus dem Norden hier in die Berge gezogen. Er erzählt von den Sprachbarrieren im Austausch mit der hiesigen Bevölkerung und im Speziellen den Handwerkern, die er sich für Arbeiten am Haus organisiert. Da Indien neben Hindi und Englisch 21 weitere offizielle Amtssprachen besitzt, gäbe es hier auch für uns also theoretisch einiges zu lernen. Doch sind wir natürlich hoffnungslos mit der Fülle des Angebots überfordert, die uns einmal mehr zeigt, wie divers dieses Land ist.

In jenem Quartier in Munnar treffen wir auch auf einen Berliner, Mitte 50, der von seinen Reisen durch Indien in den 1980ern berichtet. Zur damaligen Zeit hätte es noch viel weniger motorisierten Verkehr gegeben, es war leiser auf den Straßen, weniger grelle Hupen und saubere Luft. Auch weniger Reisende wären ihm begegnet.
Ende November letzten Jahres haben wir zum ersten Mal Indien betreten und die vielen Hupen der Motorräder, Rikschas, Autos und Busse waren wohl das erste, was uns begegnet ist. Und obwohl wir nun schon über 7 Wochen hier unterwegs sind, tun wir uns noch immer etwas schwer, dieses so große Land mit seinen BewohnerInnen und Mentalitäten zu begreifen und zu verstehen. Es erscheint uns je nach Bundesstaat wie eine ganz eigene Welt, die wir da erkunden. Auch das Angebot der regionalen Speisekarten variiert (auch wenn die 65 wohl überall als Synonym für deep fried, also frittiert, gehandelt wird). Mal ist Alkohol verboten, mal Kautabak. In Tamil Nadu scheint es verbreitet zu sein, Harry-Potter-Filmkompositionen oder andere Melodien als lustige Musik für den Rückwärtsgang von Autos einzuprogrammieren. Und doch ist es der weniger intensive Austausch mit den Menschen von hier, den wir in den anderen Ländern zuvor weitaus stärker genossen haben und der uns hierzulande etwas fehlt. Durch unsere Urlaubstage am Strand, den vielen touristischen Abstechern zu Stränden und Felsen, den bisherigen Verzicht aufs Trampen (Die spottbilligen Zügen und öffentliche Busse sind für die großen Distanzen einfach zu attraktiv. Trampend würden wir für dieses Land Jahre brauchen.) und das häufigere Unterkommen in Hosteln (da es weniger Couchsurfer gibt) sind wir häufiger umgeben von anderen, auch indischen Reisenden, als von Einheimischen.
Doch so bunt wie die Saris der Frauen ist auch Indien mit seinen  BewohnerInnen so farbenfroh und unterschiedlich wie kein anderes Land zuvor und wir nehmen uns im Stillen vor, für den Rest unserer Reise mehr auf den weniger ausgetretenen Pfaden zu gehen.

Doch bevor wir uns wieder gen Norden und entlang der Westküste mit dem Ziel des Nordosten Indiens aufmachen, lässt uns das Landesinnere im Süden noch nicht ganz los. Während unseres kurzen Aufenthalts in Vattakanal verbringen wir mit Christian noch einmal einen wunderschönen Sonnenaufgang über den Wolken und nehmen dann Abschied voneinander. Zu einem gemeinsamen Döner und einem Unionspiel in Berlin haben wir uns schon jetzt verabredet.

Wasserfall in Vattakanal.

Indien: Von dröhnenden Hupen zum rauschenden Meer

Mittags ist der Sand zu heiß, um ohne Sohle unter den Füßen auf ihm zu laufen. Das Meer wirft beachtliche Wellen auf, die sich für den Sound dieser Tage verantwortlich zeigen, wenn sie in sich zusammenfallen und an den Strand rauschen. Wir schlürfen das fruchtige Wasser aus frisch aufgeschlagenen Kokosnüssen und passen bei der Rastplatzsuche auf, dass uns diese nicht auf den Kopf fallen können. Wir sind umgeben von zahlreichen indischen Touristen, aber auch eingeflogenen oder ausgewanderten Hippies aus Europa und russischen Rentnern. Die Strände sind breit, die Preise günstig und das Essen international. Das hier ist Indien, aber vor allem Goa, der Bundesstaat an der Westküste, der komplett auf den Tourismus eingestellt ist. Wir machen Urlaub vom Reisen und genießen es, dass sich unser kultureller Input auf das Probieren exotischer Früchte beschränkt. Endlich sind wir hier. Sind wir des Reisens müde geworden? Auf keinen Fall, aber wir brauchen eine kleine Pause. Und wann wäre ein besserer Zeitpunkt? Es ist Weihnachten. –

Indien wäre jedoch nicht Indien, wenn es auf dem Weg zur Küste nicht einiges bereit zu halten hätte.
Als wir vor gut 4 Wochen in Lahore aufbrechen, erwartet uns an der Grenze nicht nur eine unkomplizierte Aus- und Einreiseprozedur, auch der Schichtwechsel der wachhabenden Grenzsoldaten darf beobachtet werden. An allen 3 existierenden Grenzübergangen zwischen Pakistan und Indien geht dieses Ereignis mitnichten im Stillen vonstatten. Besonders die Ablösung der morgendlichen Schicht ist mittlerweile zu einem Ereignis geworden, zu dem hunderte Zuschauer beider Seiten strömen: durch-choreografiert und publikumswirksam.
Die Zeremonie auf der pakistanischen Seite sehen wir uns noch während unserer Zeit in Lahore an. An einem der kleineren Grenzübergange ist die Atmosphäre hier schon fast intim, man kann den Zuschauern der indischen Seite über den Grenzzaun, welcher sich durch den im Stile einer Arena mit Tribünen zu beiden Seiten gebauten Platz zieht, in die Augen schauen. Man betrachtet sich mit Skepsis, wenn der Blick nicht durch das Geschehen ein paar Meter weiter unten gefesselt ist. Nachdem Einheizer auf beiden Seiten das Publikum auf die zu unterstützende Nation eingeschworen haben, schreiten die überdimensioniert wirkenden Grenzbeamten der pakistanischen Armee zur Tat. Jeder der kunstvoll verzierten Soldaten ist mindestens 2 Meter groß, was uns mit der Frage alleine lässt, ob das nationale Basketball-Team mit Personalsorgen zu kämpfen hat. Pakistan hat sich uns bisher nicht gerade als ein Land der Hünen präsentiert.
Mit ernster Miene werden im Folgenden Beine hinters Ohr geschwungen, die extra verstärkten Schuhsohlen donnernd auf den Zement gehauen, Maschinengewehre durch die Luft gewirbelt. Die in Normalgröße auftretenden Inder tun es ihnen gleich. Zwischendurch steht man sich im Abstand weniger Meter gegenüber und versucht, sich mit eindringlichen Blicken, geschwellter Brust und nachdrücklichem Bärte-Zwirbeln einzuschüchtern. Vor dem Hintergrund des aktuell wieder aufflammenden Kaschmir-Konflikts wirkt das Schauspiel bizarr und man ist fast froh, dass sich die Hauptmänner beider Kompanien als Zeichen des Respekts zwischendurch sogar die Hände schütteln und die Menge nach gut einer Stunde im Guten wieder auseinandergeht.

Die Wagah-Grenze etwa 60 km weiter nördlich ist die einzige für Ausländer geöffnete Grenze und wartet mit dem bekanntesten Spektakel auf. Das Amphitheater kann auf beiden Seiten locker mehrere tausend Menschen fassen. Wir müssen – mittlerweile auf der indischen Seite – auf einer extra Ausländer-Tribüne Platz nehmen. Die Choreographien ähneln den uns schon bekannten, die dröhnende Beschallung und eine Mauer, die nur das Durchgangstor freilässt, lassen uns von der anderen, der pakistanischen Seite aber fast nichts mitbekommen. Oberhalb der Zuschauerränge steht in großen Buchstaben: „Indias First Line of Defense“ und auch ansonsten wirkt das Geschehen heute etwas weniger zeremoniell, dafür martialischer.

Nur ein paar Kilometer entfernt warten Amritsar und unser Couchsurfing-Host Harjit auf uns. Harjit ist Angehöriger der Sikh, einer Religionsgemeinschaft, die ihre Wurzeln im Hinduismus hat. Als ich ihn am Abend nach dem an seinem Gürtel hängenden Spielzeug-Messer frage, erhalten wir eine kleine Einführungsstunde in seine Religion. Jeder Gläubige hat stets einen Dolch am Körper zu tragen, um in Notfällen den Armen beizustehen, aber auch um sich selbst verteidigen zu können. Hatten diese Dolche früher oftmals noch Ausmaße eines Säbels, sind sie heute aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen meist nur noch von symbolischer Größe. Harjit hat Mühe, seinen leicht angerosteten Mini-Dolch aus der Scheide zu ziehen.
Außerdem sei man angehalten, seine Haare nicht zu schneiden. Während sowohl Männer als auch manche Frauen ihr Kopfhaar unter den ebenfalls obligatorischen Turbanen verstecken, können die immer länger werdenden Bärte schon lästig werden, weshalb sie oft mit Klammern oder Haargummis zusammen gebunden sind. Ein weiteres Utensil ist der an jedem Sikh-Handgelenk zu findende silberne Armreif. Er soll den Träger davon abhalten, schlimme Dinge zu tun.
Auch wenn das Heiligtum der Sikh, der berühmte Goldene Tempel, mit seinen großzügigen Ausmaßen und seiner Andächtigkeit zum Innehalten und Energie tanken einlädt, sind wir mit der Stadt überfordert. Immer noch von Magenproblemen gebeutelt, erscheint uns das indische Gehupe noch lauter, die Straßen noch enger und das Essen noch schärfer als in Lahore. Zudem macht uns eine weitere indische Eigenheit zu schaffen. Es kommt zu lautstarken Streitigkeiten im Haus unseres Gastgebers, der zusammen mit seiner Mutter, seinem Bruder und dessen Familie wohnt. Harjit selbst hat erst vor kurzem geheiratet, jedoch eine Frau aus einer niederen Kaste. Das System, dass längst offiziell verboten ist und auch in den heiligen Schriften der Sikh abgelehnt wird, ist im Kopf seiner konservativ erzogenen Mutter noch fest verankert und lässt nun die Kochtöpfe fliegen. Nach 4 Tagen flüchten wir und nehmen den Nachtzug nach Jaipur.

Gute 700 Kilometer später sind wir in Rajasthan angekommen, einem Bundesstaat fast so groß wie Deutschland. In Jaipur nutzen wir die Gemütlichkeit eines schönen Hostels mit Dachterrase, um uns auszukurieren und schon nach wenigen Tagen haben wir wieder Muße, uns erneut auf den Weg zu machen.

Unsere nächste Station heißt Bundi. Als wir abends ankommen und eine Rikscha uns zu unserer Unterkunft in die Altstadt fährt, sind wir begeistert. Hier scheint es noch ruhiger zu sein als in der „Pinken Stadt“. Unser Hostel ist ein historisches Gebäude mit großem Innenhof, in dem unser kleines Häuschen Platz findet, welches aus nur einem Raum besteht. Auf den Flachdächern der Nachbarschaft lassen die Buben Drachen steigen und nur ab und zu ist das Knattern der Motorräder in den Seitenstraßen zu hören. Am nächsten Tag machen wir uns auf den Weg zu einem Aussichtspunkt auf einem nahen Hügel. Neben den allgegenwärtigen Kühen, die – nach Ablauf ihrer besten Jahre von den Bauern in die Städte gebracht – manchmal in der Gegend rumstehen wie bestellt und nicht abgeholt, begegnet uns auch die ermattete Hochzeitskapelle der vergangenen Nacht. Gerade ist Hauptsaison für Eheschließungen und beinahe jeden Abend zieht eine Karawane durch die Stadt, die neben dem Bräutigam und seinen Verwandten auch aus einem Lautsprecherwagen, welcher in ohrenbetäubender Lautstärke Musik abspielt, und Trägern von Lichterschirmen besteht, welche die Festgesellschaft umrahmen. Den Abschluss bildet der Unglückliche, der den uralten Generator ziehen muss.

Als nächstes wollen wir nach Ahmedabad und weil Udaipur günstig auf der Hälfte der Strecke liegt, legen wir einen Stopp ein. Wir erhoffen uns nicht viel und werden überrascht. Die Stadt, die von einer gigantischen Seenlandschaft geprägt ist, versprüht schon fast mediterranes Flair. Wir lassen uns anstecken von der Urlaubsstimmung der zahlreichen Touristen und finden uns wieder in einer perfekt auf deren Bedürfnisse abgestimmten Innenstadt. Cafés und Restaurants reihen sich ein in Wäschereien und Reiseagenturen und natürlich werden all die uns wohl bekannten Indien-Artikel an den Mann und die Frau gebracht: farbenfrohe Tücher und Kleider, Raucherstäbchen und Lederwaren, kunstvoll gefertigte Ketten und Ohrringe, Henna-Bemalung, Yogakurse und Ayurveda-Massagen.
Wir leihen uns einen Roller aus und als wir wenig später bei der Fahrt durch das grüne Umland den Fahrtwind im Gesicht spüren, ist es wieder da, das Sommergefühl, mitten im Winter. Je höher die Temperaturen steigen, desto wärmer werden auch wir mit Indien.

Einmal halten wir dann noch auf unserem Weg zum Strand. Ahmebadad soll tolles Streetfood und eine sehenswerte Altstadt haben. Wir werden von Prakash empfangen, der in einem schicken Hochhaus abseits der Stadt in einer dieser neu gebauten Siedlungen wohnt, die mit ihren sauberen Straßen und bewachten Umzäunungen die Mittelschicht anlocken. Er hat ein ungewöhnliches Angebot für den nächsten Tag. Ein guter Freund von ihm würde gerade einen Online-Bekleidungshandel aufziehen und suche noch ein weibliches Model. Noch am selben Abend fahren wir zu ihm und lassen uns die Kleider zeigen. Sein Ansatz, nur von Hand Gefertigtes anzubieten, überzeugt und am nächsten Morgen dreht Henriette sich im warmen Sonnenlicht vor der Kamera. Die Entrepreneure können keine Bezahlung bieten, sondern laden uns stattdessen in eines der renommiertesten Restaurants zum Tahli-Essen ein. Auf zusammen gesteckten Blättern eines uns unbekannten Baumes werden Curries, Dhals, verschiedene Gemüse, Halwa, Chapati und Buttermilch aufgetischt. Wir sind im Himmel und schmausen bis zur Unbeweglichkeit. Der erste Job auf Reisen hat sich gelohnt!
In den nächsten Tagen entdecken wir die 8-Millionen-Stadt mal mit, mal ohne Prakash. Gandhi hat hier seinen ersten Ashram errichten lassen. Im Gedenken an seine Lehren und seine Enthaltsamkeit ist bis heute Alkoholkonsum für Inder im gesamten Bundesstaat Gujarat verboten. Allein Ausländer können eine Ausnahmegenehmigung beantragen.

Nach 4 Tagen sagen wir unserem netten Gastgeber Lebewohl, der uns noch auf der Fahrt zum Bahnhof von seinem Vorhaben überzeugen will, mit ihm in Goa ein Casinoschiff zu besuchen. Mit Strand hätte er es nicht so… Wir schon, winken wir lachend ab. Nur noch eine 17-Stunden-Zugfahrt trennt uns vom Meer.