In den letzten Wochen wandelten wir durch die Labyrinthe großstädtischer Strukturen und streiften auf trockenem, sandigen Grund umgeben vom indischen Dschungel entlang der Ostküste Indiens gen Norden.
Beim Blick über die Schulter zurück in den kürzesten Monat des Jahres finden sich unsere Tagebücher mit divers kolorierten Niederschriften bestückt, die neben unseren persönlichen Eindrücken von Wahrnehmungen und Meinungen von InderInnen handeln – zur eigenen indischen Identität, dem Umgang und der Akzeptanz von Religionen und der Gleichberechtigung der Geschlechter – und unterschiedlicher und kontroverser nicht hätten sein können. Ihre Erzählungen verlaufen wie ein roter Faden durch unsere letzten Wochen, den wir doch diesmal, mehr als in den ersten beiden Monaten in Indien, vor allem mit den Einheimischen gemeinsam gesponnen haben.
Nach unserem Aufbruch aus Vattakanal teilt unser Gastgeber Saravana in Madurai mit uns den neu in den hiesigen Kinos erschienenen zweistündigen Actionfilm und Publikumserfolg „Darbar“, in dem sein Idol aus Kindertagen, Rajinikanth mit stattlichen 69 Jahren noch immer böse Schurken auf der Leinwand überlistet.
Kampfszenen und das immer wieder von außen angewehte Haar der FilmdarstellerInnen wird dramaturgisch allzu gern in Zeitlupe gezeigt und die uns aus dem Bollywoodfilmen bekannten Tanzszenen lassen uns tief in unsere Sessel sinken und unseren ersten indischen Kinofilm in vollen Zügen genießen.
Doch bevor wir uns an Käsepopcorn und dem angepriesenen Filmstreifen frönen, wird sich erhoben, um gemeinsam mit den anderen KinobesucherInnen die indische Nationalhymne zu singen. Wir folgen dem Ereignis etwas verwundert, aber dennoch gehorsam und erfahren später, dass dieses Vorspiel in ganz Indien ein fester Bestandteil eines jeden Kinobesuchs ist.
Film 1×1: Filmproduktionen aus Tamil Nadu werden als Tollywood bezeichnet, bei Filmproduktionen aus Mumbai spricht man von Mollywood und bei Produktionen, die Geschichten und Darsteller aus ganz Indien umfassen, handelt es sich dann schließlich um Bollywoodfilme.
Wie stolz die Menschen in Indien im Allgemeinen, aber auch wie vernarrt diese im Besonderen im Bundesstaat Tamil Nadu in ihre Filmstars sind, zeigt deren vielfach gewählter Berufseinstieg nach Ausscheiden aus dem Filmbusiness in die Politik, der durch die große Anhängerschaft meist nicht minder erfolgreich verläuft.
Neben diesem aktuellen Einblick ins südindische Kino unternehmen wir mit Saravana auch eine Reise in die traditionsbehaftete Vergangenheit der Region, indem wir ihm in ein nahegelegenes Dorf folgen.
Wir begegnen hier der wohl letzten Generation von WeberInnen, die an ihren raumfüllenden Webstühlen, in denen sich die rund 1600 gespannten Fäden nur einen Hauch von einander entfernt eingereiht haben, in tagelanger Handarbeit Saris (aus Baumwolle und Seide) herstellen. Wir sind tief beeindruckt von ihrem Handwerk und dankbar für Saravanas Einladung.
Für einen handgewebten Sari aus Baumwolle erhalten die WeberInnen rund 500 Rupie, umgerechnet 6 €, der mit einem Arbeitsaufwand von mehreren Tagen zu Buche schlägt. Ihre Kinder zieht es derweil in die Städte, so erzählen uns die KünstlerInnen mit dem Garn, wo Arbeitsangebote mit besserer Bezahlung Hoffnung auf eine wohlhabendere Zukunft geben.
Dann geht es nach Pondicherry und Auroville. Viel haben wir schon über den Ort, der sich selbst mit dem Titel „größte, internationale Kommune“ schmückt, gelesen und sind voller Neugier und vielen, vielen Fragen.
Den Grundstein für dieses Projekt legte die bereits 1973 verstorbene Französin Mira Alfassa, die von den Menschen hier anerkennend, wenn nicht glorifizierend als „the mother“ in Erinnerung behalten wird. Ihr Antlitz und das von Sri Aurobindo, einem indischen Yogi und Philosophen, dessen Ideen sich stark inspirierend auf die Sichtweisen „der Mutter“ auswirkten, finden sich an vielen öffentlichen Orten von Auroville.
Zur Einweihungsfeier von Auroville 1968 kamen Menschen aus 124 Nationen. Die von ihnen aus ihrem Heimatland mitgebrachte Handvoll Erde stand damals wie auch heute sinnbildlich für die Idee, einen Ort zu schaffen, staatenunabhängig, für Menschen jeglicher Herkunft und Hautfarbe. Die vorangegangenen Kriege und neuen politischen Herausforderungen in aller Welt ermutigten Alfassa damals in ihrem Vorhaben für eben so einen Ort, dem ab 1988 durch den Auroville Foundation Act besonderer Schutz des indischen Staates zuteil wurde.
Am Anfang des Projekts sahen sich die Anhänger mit staubtrockener, blutroter Erde konfrontiert, die weder Schatten noch Wasserquellen bot.
Bei unserer Teilnahme an einer öffentlichen Führung lernen wir B kennen, der sich von seinen restlichen drei Buchstaben „ill“ bereits vor Jahrzehnten verabschiedete und sich heute mehr mit dem englischen „to be“ identifiziert. Er erzählt von seinem Ankommen in den 1970er Jahren und den vielen Menschen, die kamen und doch wieder gingen, der Herausforderungen müde geworden. Die, die blieben, vereinte der unbändige Wille, die Utopie doch noch Wirklichkeit werden zu lassen.
Heute ist Auroville eine grüne Oase, die durch Millionen gepflanzter Bäume und erschlossenen Wasserquellen für knapp 2500 Menschen aus 50 Nationen einen Ort zum Leben bietet.
Die Willenskraft und der Idealismus jener Menschen, die dieses Projekt begannen und bis heute weiterführen, zeigt für uns in gewisser Weise, was durch eigenes Handeln möglich ist.
Doch bemerken wir auch die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit welchen sich dieses Projekt konfrontiert sieht. Obwohl eine der Hauptideen des Projekts darin besteht, ohne Geld auszukommen, ist die Community mehr denn je auf die knapp 90.000 BesucherInnen pro Jahr angewiesen, die den nötigen Zaster reinbringen. Und auch wir machen uns gerne mitschuldig und schmausen heimische Leckereien wie Pizza und Schwarzbrot zu europäischen Preisen.
Im Mittelpunkt der Stadt befindet sich das hier als Ort der stillen Meditation beschriebene goldene Gebäude Aurovilles – der Matrimandir, erst seit 12 Jahren nach über 30jähriger Bauphase vollendet.
Um diesen Ort vor Besucherströmen zu bewahren, dürfen wir als Außenstehende nur in den Morgenstunden als knapp 30köpfige Gruppe in Begleitung von einem Aurovillaner hinein.
In strahlend weißen Tennissocken, die uns im Eingangsbereich ausgehändigt werden, erreichen wir mit leisen und bedächtigen Schritten die Herzkammer jenes utopisch anmutenden Gebäudes. Den runden Raum mit hohen Decken erhellt nur ein durch einen Spiegel im Dach gelenkter Lichtstrahl, der auf eine mittig positionierten Kristallkugel fällt. Wir erfahren für einige Minuten, trotz der großen Gruppe von Menschen, eine tiefe und intensive Stille.
Neben jenen ruhigen Momenten, die wir hier erleben dürfen, geben wir zwischendurch auch gerne mal Gas. Zu seinem Ehrentag wird Nikolas mit einem ausgeliehenen Scooter ein wilder Ritt durch Aurovilles kleine grüne Pfade mit leckeren Gaumenpausen beschert und die überall zu findende frische Luft weht ihm dabei wohlgesonnen durch das immer länger werdende Rockerhaar. Sirish, eine weitere liebenswerte Bekanntschaft, die wir über unsere Internetcouchsuche kennen lernen, soll Nikolas‘ Fahrstil in den nächsten Tagen noch mit dem eines wagemutigen Inders vergleichen.
Neben Sirishs Sinn für Humor, der uns nicht selten schmunzeln lässt, schenkt er uns darüber hinaus Unterstützung auf dem uns noch unbekannten Terrain der Meditation. Er erzählt uns außerdem von seiner Freiwilligenarbeit mit der Motivation, Hindus und Muslims im eigenen Land wieder zu vereinen und alte Wunden, die u.a. durch persönliche Fluchterfahrungen, die auf beiden Seiten durch die Teilung Indiens erlebt wurden, zu heilen.
Da wir noch nicht so recht weiterwollen, schließen wir nach unseren ersten Tagen in Auroville einen einwöchigen Aufenthalt bei Glory und ihrer Milchfarm als Freiwillige an. Glory beliefert mit ihrer Milch lediglich den mit Auroville verbundenen Ashram in Pondicherry, welcher für die Weiterverarbeitung zu Käse, Butter und Joghurt und deren Verteilung an die anderen beteiligten Projekte zuständig ist und erhält dafür im Gegenzug andere Naturalien und die nötigen finanziellen Mittel, um den Hof weiterhin wettbewerbsfrei zu betreiben.
Auch hier genießen wir einen regen Austausch über Indiens Geschichte und sind erst einmal erstaunt, auf jemanden zu treffen, der so gar nicht Fan von Ghandi ist.
Für Glory wiegen die traumatischen Erfahrungen ihrer Familie, die aus dem heutigen Bangladesh nach der Teilung Indiens 1947 fliehen und all ihr Hab und Gut zurücklassen musste, schwerer als Ghandis Beitrag zum unabhängigen Staat Indien.
Wer mehr über Auroville erfahren möchte, sollte sich den sehr detailliert und gut geschriebenen Artikeln unserer beider LieblingsbloggerInnen widmen, die 10 ganze Monate im Projekt verbracht haben. Hier entlang!
Es geht landaufwärts Richtung Chennai.
Bei Prabha kurz vor Chennai sind wir in Indien zum ersten Mal bei (protestantischen) Christen zu Gast, die uns an ihrer Abendandacht im familiären Kreis teilnehmen lassen.
Mit Prabha lernen wir eine Frau kennen, die in ihrer Jugend gegen ihre Familie und das immer noch bestehende Kastensystem aufbegehrte und sich für eine Liebesheirat und einen Mann aus einer niederen Kaste entschied.
Während unseres Aufenthalts in Chennai selbst treffen wir dann auf Santhosh, der uns ein Bett, welches sonst nur den geladenen Hochzeitsgästen seiner betriebenen Festhalle für indische Heiratszeremonien vorbehalten ist, anbietet. Wir bekommen eine Führung durch die festlichen Räume und dabei gleichzeitig einen Schock, als er für uns den Preis einer solchen eintägigen Zeremonie zusammen rechnet. Mindestens 15.000€ muss man hier (wo Gehälter weit unter dem westlichen Durchschnitt liegen) auf den Tisch legen, um im Gegenzug für die rund 1000 geladenen Gäste, neben prunkvoller (und leicht demolierter) Dekoration und Speis und Trank auch die gewünschte musikalische Abendbegleitung zu erhalten.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfahren wir auch über die hohe Bürde für Eltern mit Töchtern, denn sie allein stehen in der Schuld, die Kosten für die Heirat zu tragen. So will es die Tradition, scherzt Santhosh, der zu seiner Freude 2 kleine Söhne hat. Geschmeide aus Gold und edle, teure Kleidungsstücke, die sich auch ganz besonders häufig auf Werbeplakaten auf den Straßen oder in der Kinowerbung finden, gehören ebenso zu den eingeforderten Gaben jener Eheschließungen. Dass die gesellschaftlich festgelegten Normen damit große Ängste um das eigene Ansehen schüren und dabei so manche Familie in den wirtschaftlichen Ruin treiben, hatte in der Vergangenheit nicht selten zur Folge, daß viele Familien sich in ihrer Verzweiflung dazu getrieben fühlten, ihre eigenen weiblichen Föten abzutreiben oder kurz nach der Geburt zu töten. Heutzutage ist es den
Ärzten untersagt, das Geschlecht des Kindes während der Schwangerschaft zu offenbaren. Auch wenn sich Santhosh uns gegenüber offen für eine Lockerung des Kastensystems und alter Traditionen zeigt, ist er in Bezug auf seine eigenen Söhne dann doch weniger liberal und wünscht sich künftige Schwiegertöchter aus der eigenen wohl situierten Klasse.
Bevor es in recht großen Schritten und mit vielen Stunden in einem Bahnwagon nach Kalkutta geht, machen wir noch einen kurzen Ausflug ans Meer und nach Puri. Hier befinden wir uns in einem Urlaubsdomizil für beinahe ausschließlich indische Touristen und erleben neben der abendlichen Strandunterhaltung mit Kamel- und Pferdereiten ein Meer von bunten Sonnenschirmen erhellt durch grelle Lichtkegel, unter denen viele bunte unnütze Dinge als Erinnerungsstücke locken. Wir dagegen fokussieren uns wie immer auf neue kulinarischen Entdeckungen und werden belohnt.
Fast schon in alter Tradition wechseln wir uns dann in Kalkutta erst einmal gegenseitig mit fiesen Bazillen und Erkältungenstürmen ab. Shalini, unsere hiesige Gastgeberin, bietet uns dabei einen Ort zum Gesundwerden und kümmert sich rührend um unsere erkrankten, müden Körper.
Trotz all der Infekte findet sich auch ein wenig Zeit, das als Kulturstadt geltende Kalkutta auf eigene Faust zu erkunden. Das Straßenbild im Mantel alter, gebrechlicher Gemäuer aus früherer Kolonialzeit wird durch die hier charakterischen gelben Ambassador-Taxis charmant ergänzt. Wenn man sich vom Blick des an so mancher Straßenecke zu findenden Inders, der vertieft in seiner Zeitungslektüre verweilt, löst, so hat man gute Chancen, auch die hiesigen Piloten hinterm Busfahrersteuer ausfindig zu machen und im Vorbeifahren schnell dazuzusteigen.
Sofern als Frühaufsteher auf den Nebenstraßen dieser 4,5 Mio.-Metropole unterwegs, begegnet man den kleinen Männertrauben mit eingeseiften Körpern beim morgendlichen Bad neben dem Gehweg unterm Wasserstrahl oder kann zwischen gelben und anders farbigen Blüten auf dem Blumenmarkt mit dem wilden Treiben gänzlich verschmelzen. Dass das Essen an den Straßenstränden noch günstiger ist als in anderen Großstädten Indiens gibt Auskunft darüber, wie arm diese Stadt und viele ihrer BewohnerInnen sind. Wohnungen finden sich hier mitunter schon für umgerechnet 100 Euro pro Monat, was in anderen Großstädten undenkbar wäre, so erfahren wir. Für all diejenigen, für die dieser Betrag eine privatwirtschaftliche Hürde darstellt, müssen improvisierte Hütten am Straßenrand als Obdacht dienen. Wenn das Tagesgeschäft an den Essensständen sein Ende findet, wandelt sich der Arbeitsplatz zur nächtlichen Schlafstätte. Zusammengerollte Körper unter dünnen Stofftüchern auf den eigenen notdürftig zusammengeschusterten Ladentheken, die sich an den großen Straßen auf dem Bürgersteigen eng aneinander reihen, sind die ersten Bilder, denen wir in Kalkutta bei unserer nächtlichen Ankunft begegnen.
Fachbücher-Läden in der Universitätsstraße. Ein Anblick, der für uns immer schwer zu ertragen ist: selten werden Klassenunterschiede deutlicher. Victoria genießt die Aussicht am Victoria-Memorial. Auf jedes zweite Selfie lassen wir uns ein.
Wie auch schon in den Gesprächen auf der Milchfarm bei Glory kommt es auch hier mit unserer Gastgeberin zur hitzigen Diskussion über die Akzeptanz und die Einwanderung von Muslimen. Dabei ist die Angst auch Shalinis, dass die hiesigen 14% Muslime den 80% Hindus „ihr“ Land wegnehmen. Abgesehen davon, dass der Islam schon seit vielen Jahrhunderten Teil der indischen Bevölkerung ist, kommt uns diese Furcht ähnlich irrational vor wie in Deutschland.
Während Donald Trump an jenen Tagen Indien einen Staatsbesuch abstattet und sich vom indischen Präsidenten Modi den Taj Mahal zeigen lässt, gibt es in vielen Städten des Landes, wie auch hier, Proteste gegen das von der nationalistischen Regierung verabschiedete sogenannte Staatsbürgerschaftsgesetz. In Dehli kommt es zu schweren Zusammenstößen zwischen Hindus, Moslems und den oft viel zu spät eingreifenden Sicherheitskräften, bei denen über 20 Menschen sterben.
Das Gesetz besagt u. a., dass religiös verfolgten Minderheiten, die vor 2014 nach Indien gekommen sind, schon nach 5 Jahren Aufenthalt die indische Staatsbürgerschaft zugesprochen werden kann. Entgegen der indischen Verfassung, in der das als säkularer Staat bezeichnete Land gleiches Recht für alle Menschen, unabhängig ihrer Religion, zusichert, werden hier allerdings Menschen muslimischen Glaubens von diesem Gesetz explizit ausgeschlossen.
Wer mehr erfahren möchte, sei auf diesen Artikel des ZDF verwiesen.
Die rechte Regierung scheint auch hier die Gesellschaft zu spalten. Bisher haben wir leider keine Begegnungen mit der muslimischen Bevölkerung. Zu gerne würden wir aber auch von ihnen Meinungen hören und erfahren, wie ihr Leben in diesem angespannten Klima aussieht.