Zu dritt durch Indiens Süden

25. Januar 2020. Der neue Morgen in Vattakanal lädt zum vorerst letzten Frühstück im Trio, bevor sich unsere Wege nach langer Zeit wieder trennen.
Vor knapp 7 Wochen treffen wir auf Christian, von seinen Freunden auch liebevoll Mölli genannt. Der Berliner Jung ist, wie auch wir, zwischen Wellen und Sand in Agonda, im Bundesstaat Goa, auf der Suche nach ein paar ruhigen und entspannten Tagen unter der indischen Sonne und wir sind uns beim Schnack am Strand gleich sympathisch. Zusammen mit Coralie, die im gleichen Dschungelnest, indem auch wir Unterschlupf finden, nächtigt, erleben wir an jenen Tagen so manches Abenteuer auf den hier als Scooties (Roller) bekannten Transportvehikeln. Neben verlassenen Stränden, an denen auch ein Tom Hanks wie im Hollywoodstreifen „Cast away“ hätte stranden können, bemerken wir zudem schnell die gemeinsame Vorliebe des Speisens und Probierens.

Mit der Regionalbahn nach Agonda.

Da wir einander mögen und es uns alle weiter entlang der Küste zieht, reisen wir als Vierergespann für die weihnachtlichen Feiertage nach Gokarna, im Bundesstaat Karnataka, weiter. Hier verbringen wir, umgehen von einer heiteren Schar von RentnerInnen (wir erwarteten viel mehr Hippies – junge Hippies) und jungen InderInnen das christliche Fest, über das lediglich die vereinzelt zu findenden roten Mützen auf Kinderköpfen und die Krippen mit Nashorn, Elefant und bunten Lichterketten Aufschluss geben. Unsere Alternative zu festlichem Braten und weihnachtlichen Plätzchen sind u.a. die auf den Speisekarten zu findenden „Chocoballs“, die uns täglich aufs Neue beglücken und dessen Zubereitung wir nur allzu gerne mit den süßen Schelmen unter euch teilen.

– Indian Chocoballs –

Man nehme:

  • Butterkekse
  • Butter
  • Milch
  • Kakaopulver
  • Kokosraspeln

Da mich der Koch nur kurz über seine Schulter schauen ließ, muss bei den Mengenangaben der eigenen Erfahrung vertraut oder ein erfahrener Assistent oder eine Assistentin zu Rate gezogen werden. Die Konsistenz betreffend, kann sich an den in unseren Gefilden als „Energyballs“ bekannten Bällen orientiert werden.

Aus viel macht eins – so gehts:
Butterkekse mit vorhandenem Küchengerät oder eigener Körperkraft zu Pulver verarbeiten. Dieses dann mit sehr weicher Butter, Kakaopulver und Milch zu einer schlonzigen Masse verarbeiten und mit Lust und Laune zu kleinen und großen Kugeln formen. Den letzten Schliff verleihen dem Endprodukt die Kokosraspeln, in denen der Chocoball gerne auch frivol und unermüdlich gewälzt werden kann. Je nach gusto.

Tipp: Besonders lecker sind die süßen Bälle, wenn sie mit warmer Milch zubereitet und gleich darauf verputzt werden.

Mit jener Schlemmerei vergehen die herrlich faulen Tage wie im Flüge. Mittagsschläfchen werden zum täglichen Ritual, wir verschwinden immer wieder wie kleine Leseratten in den Welten unserer Lektüren und genießen die Vorzüge des Strandlebens mit täglichen Erholungsauflügen ins salzige Nass. Auch das Universum überrascht uns mit einer 90-prozentigen Sonnenfinsternis, die es mitten am 2. Weihnachtsfeiertag dunkler um uns werden lässt und die viele Hindus zum Anlass für ein heilendes Bad im Meer nehmen.

Zum Jahresumschwung machen wir uns dann zusammen mit Christian auf den Weg ins Landesinnere nach Hampi, einem weiteren touristischen Absteigenest. Es erwarten uns herrliche Reisfelder in strahlendem Grün zwischen Palmen und Felsformationen, die wir beklettern und erklimmen. Aber auch einige Tempel kundschaften wir aus, lernen neben Shiva und Ganehsa weitere Gottheiten wie den affenähnlichen Hanuman kennen und finden ein nettes, kleines Straßenlokal, in dem wir der Großmutter beim Schaukeln der kleinen Enkelin zuschauen dürfen, während wir glücklich und froh unser Abendmahl einnehmen.
Ein langes Tuch ist durch eine simple Konstruktion durch eine Öse an der Decke gezogen und hängt hinab. Mit einer Kuhle fürs Kind und einem Seil zum Ziehen darf auch Christian beim nächsten Besuch die ehrenvolle Aufgabe des Strippenziehers übernehmen.

In der Nacht, in der das neue Jahr beginnt, bestaunen wir auf einem großen Felsen die zwei wohl hellsten und längsten Sternschnuppen seit der Entstehung der Menschheit! und sind erwartungsvoll und neugierig auf das kommende Jahr und den damit für uns verbundenen unbekannten Ländern, Menschen und ihren Geschichten, denen wir hoffentlich auch zukünftig begegnen und zuhören dürfen.

Landschaft in Hampis Umgebung.
Ein Pilger erfreut sich unserer Linse.

Auf unserem Weg in den Bundesstaat Kerala überlässt uns unser Couchsurfer in Bengalore (Karnataka) noch kurzerhand seine Wohnung ganz für uns allein, da er sich gerade selbst im Urlaub befindet. Neben der Erkundung der reich an Konsumtempeln mit großen uns bekannter Ketten für teuren Kaffee oder Outdoorkleidung gezierten Straßen, kaufen wir in den ruhigeren Gassen fernab des Zentrums bei einem Chipsverkäufer eine Auswahl an eigens von ihm frittierten Kartoffeln und Bananen und treffen auf das eine oder andere alte Mütterchen, welches auf robusten Holzkarren Obst und Gemüse zum Verkauf anbietet, sowie auf alte Handwerkskunst in Form von Hand bestickter Kleidung.

Nur Mülleimer sind schwer zu finden und ich laufe etwas hilflos mit meiner Tüte Abfall durch die Straßen, ohne Möglichkeit, diese zu entsorgen. Der Geruch von brennendem Plastik beschreibt nicht selten das hiesige Problem einer fehlenden Müllabfuhr. Dass Deutschland nach Recherchen der taz jährlich ca. 70.000 Tonnen an Kunststoffabfällen zusätzlich nach Indien verschifft, lässt einen nicht minder verärgert und ratlos zurück.
Auch wenn es Bestrebungen von Seiten der indischen Regierung gibt, der hiesigen Plastikflut und im Speziellen Plastiktüten durch ein Ultimatum, was an alle Bundesstaaten Indiens gerichtet ist, bis 2023 vollständig aus dem Land zu verbannen und durch recyclingfähiges Plastik zu ersetzen, Einhalt zu bieten, so haben wir als außenstehende Beobachter und im Gespräch mit anderen InderInnen das Gefühl, dass es weiterhin viel Aufklärung und Zeit für Umgewöhnung von Gewohnheiten braucht. Die Abfallberge am Straßenrand und Verpackungen von Süßem und Chips, welche allzu oft aus den Händen gedankenverloren auf dem Boden landen, begegnen uns alltäglich.

Wir hörten und lasen bereits viel über den mit am südlichsten gelegenen Bundesstaat Indiens, Kerala, welches auch als Land der Kokospalmen übersetzt werden kann.
Auf unserer Zufahrt nach Alleppey, einer Hafenstadt mit stehenden Gewässern im Hinterland, treffen wir auf große Gruppen von Pilgern, deren Dhotis (langes Stück Stoff, von ihnen auch als langer Rock getragen) am Bahnhof in Bengalore zum in der Sonne trocknen an einigen Zugwagons hängen. Gefüllte Päckchen mit Blumen-(Ketten) und anderen Gaben werden auf ihrer jährlichen Pilgerreise in die Berge zum geweihten Tempel Sabarimala getragen, einem der größten Wallfahrtsziele Indiens mit mehr als 40 Mio. BesucherInnen pro Jahr. Auch wenn es Frauen jeglichen Alters durch ein Gesetz von 2018 nun auch gestattet sein soll, diesen Tempel zu besuchen, sehen wir ausschließlich Männer und hören auch von starken Protesten Konservativer, die dieses Gesetz wieder kippen wollen.

In Alleppey selbst werden wir von vielen leuchtenden Augen und beglückender Freundlichkeit empfangen. Unter Einfluss der portugiesischen Kolonialgeschichte finden sich hier viele alte, kleine Kirchengebäude. Doch auch bunte und reich verzierte hinduistische Tempel und Moscheen, die uns mit ihren Gebeten bei Spaziergängen zum Strand begleiten, bekommen wir zu Gesicht. Gerade im Bundesstaat Kerala ist der Anteil der muslimischen Bevölkerung im Landesvergleich mit 27% relativ hoch und doch haben wir das Gefühl, dass die Bevölkerung hier bezüglich ihrer diversen Glaubensrichtungen einander genügend Akzeptanz und Respekt schenkt, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten.

Auch begegnet uns nicht selten Hammer und Sichel auf Plakaten oder als kleines Denkmal im Grünen, während wir mit den lokalen Fähren die Gewässer der Stadt bereisen. Grund dafür ist die kommunistische Partei CPI, die abwechselnd mit den Sozialisten Kerala seit Indiens Unabhängigkeit regiert und vielleicht auch dazu beigetragen hat, dass es hier im landesweiten Vergleich die geringste Korruptionsrate vorzuweisen gibt.

Während Nikolas in den nächsten Tagen seinem widerspenstigen Halskratzen den finalen Kampf ansagt, treffe ich erneut auf Köchin Saphina, die mir auf Nachfrage erlaubt, sie noch einmal persönlich in der Küche ihres Restaurants am Strand zu besuchen. Die in ganz Indien zu erwerbende Brotware Paratha, die zu Dhal und vielen anderen Speisen gereicht werden kann, möchte ich heute selbst einmal zubereiten. Mehl, Wasser und Ei sind rasch zusammengeführt und auch das Kneten ist vollbracht. Doch nach dem Portionieren und Ausrollen des Teiges beginnt Saphina den Teig über ihrem Kopf wie ein Lasso mit einer speziellen Technik zu drehen und mit voller Wucht auf die Arbeitsfläche zu klatschen. In irrsinnigem Tempo wiederholt sie jenes Kunststück für einige Male. Meine Versuche enden mit einem eher niedergeschlagenen, traurigen und zerlöchtertem Teig, der seinen Weg im Vergleich nur langsam und unbeholfen zurück auf die Küchenplatte findet. Und dennoch kehre ich mit ein paar wenigen geglückten Paratha für Christian und Nikolas zurück in unser nächtliches Schlafquartier und verweile in Gedanken für ein paar weitere Tage ein wenig verliebt in Saphina, in ihr Lächeln und ihre Gastfreundschaft. Sie steht für uns stellvertretend für die Mentalität des Südens, welche sich durch eine entspannte, besonnene und aufrichtige Herzlichkeit ihrer Bewohner auszeichnet.

Nachdem wir alle drei wieder gut zu Fuß sind, begeben wir uns in die Berge. It’s teatime! Es geht ins kleine Örtchen Munnar, wo schon seit den 1880er Jahren Tee angebaut wird. Durch Zufall lernen wir zwei junge Inder kennen, Anas und Nasin, die uns kurzerhand mit in die Natur nach Kolukkumalai nehmen. Dort treffen wir auf ihre ulkigen Freunde, wie Albert und Jobi, mit denen wir uns gemeinsam auf Wanderschaft durch die Teeplantagen begeben, während sie dabei ihre neu ergatterten deutschen Wörter, wie den Favoriten aller, „Hallöchen Popöchen“, in herrlichen Variationen zum Besten geben.

Neuinterpretation des von uns gelehrten „Gute Nacht“ und „Hallöchen Popöchen“ 3 Tage später!
Gut gelaunte Teepflückerinnen bei der Arbeit.

Raju, der das Hostel in Munnar leitet (in dem wir endlich wieder einmal unser Zelt aufschlagen dürfen) ist vor zwei Jahren aus dem Norden hier in die Berge gezogen. Er erzählt von den Sprachbarrieren im Austausch mit der hiesigen Bevölkerung und im Speziellen den Handwerkern, die er sich für Arbeiten am Haus organisiert. Da Indien neben Hindi und Englisch 21 weitere offizielle Amtssprachen besitzt, gäbe es hier auch für uns also theoretisch einiges zu lernen. Doch sind wir natürlich hoffnungslos mit der Fülle des Angebots überfordert, die uns einmal mehr zeigt, wie divers dieses Land ist.

In jenem Quartier in Munnar treffen wir auch auf einen Berliner, Mitte 50, der von seinen Reisen durch Indien in den 1980ern berichtet. Zur damaligen Zeit hätte es noch viel weniger motorisierten Verkehr gegeben, es war leiser auf den Straßen, weniger grelle Hupen und saubere Luft. Auch weniger Reisende wären ihm begegnet.
Ende November letzten Jahres haben wir zum ersten Mal Indien betreten und die vielen Hupen der Motorräder, Rikschas, Autos und Busse waren wohl das erste, was uns begegnet ist. Und obwohl wir nun schon über 7 Wochen hier unterwegs sind, tun wir uns noch immer etwas schwer, dieses so große Land mit seinen BewohnerInnen und Mentalitäten zu begreifen und zu verstehen. Es erscheint uns je nach Bundesstaat wie eine ganz eigene Welt, die wir da erkunden. Auch das Angebot der regionalen Speisekarten variiert (auch wenn die 65 wohl überall als Synonym für deep fried, also frittiert, gehandelt wird). Mal ist Alkohol verboten, mal Kautabak. In Tamil Nadu scheint es verbreitet zu sein, Harry-Potter-Filmkompositionen oder andere Melodien als lustige Musik für den Rückwärtsgang von Autos einzuprogrammieren. Und doch ist es der weniger intensive Austausch mit den Menschen von hier, den wir in den anderen Ländern zuvor weitaus stärker genossen haben und der uns hierzulande etwas fehlt. Durch unsere Urlaubstage am Strand, den vielen touristischen Abstechern zu Stränden und Felsen, den bisherigen Verzicht aufs Trampen (Die spottbilligen Zügen und öffentliche Busse sind für die großen Distanzen einfach zu attraktiv. Trampend würden wir für dieses Land Jahre brauchen.) und das häufigere Unterkommen in Hosteln (da es weniger Couchsurfer gibt) sind wir häufiger umgeben von anderen, auch indischen Reisenden, als von Einheimischen.
Doch so bunt wie die Saris der Frauen ist auch Indien mit seinen  BewohnerInnen so farbenfroh und unterschiedlich wie kein anderes Land zuvor und wir nehmen uns im Stillen vor, für den Rest unserer Reise mehr auf den weniger ausgetretenen Pfaden zu gehen.

Doch bevor wir uns wieder gen Norden und entlang der Westküste mit dem Ziel des Nordosten Indiens aufmachen, lässt uns das Landesinnere im Süden noch nicht ganz los. Während unseres kurzen Aufenthalts in Vattakanal verbringen wir mit Christian noch einmal einen wunderschönen Sonnenaufgang über den Wolken und nehmen dann Abschied voneinander. Zu einem gemeinsamen Döner und einem Unionspiel in Berlin haben wir uns schon jetzt verabredet.

Wasserfall in Vattakanal.